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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Jagd ist kein Platz für irgendetwas anderes, nur das Überleben zählt. Dieser Grundsatz ist prägend für das Gesetz der sibirischen Kriminellen und bildet die moralische Basis, die von den Kriminellen Demut und Einfachheit in den Taten verlangt sowie Respekt gegenüber der Freiheit jedweden Lebewesens.
    Die ehrbaren, für die Jagd benutzten Waffen werden an einem besonderen Ort im Haus aufbewahrt, dem sogenannten »Altar«. Dort befinden sich auch die bemalten Gürtel der Hausherren und ihrer Vorfahren, an denen stets die Jagdmesser und Taschen mit diversen Talismanen hängen, magische Gegenstände des heidnischen Sibirien.
    Als sündig hingegen gelten jene Waffen, die zu kriminellen Zwecken benutzt werden. Diese Waffen werden gewöhnlich im Keller oder in irgendwelchen Verstecken im Hof aufbewahrt. In jede sündige Waffe wurde irgendwo das Bild eines Kreuzes oder Schutzheiligen eingraviert, und sie wurde in einer sibirischen Kirche »getauft«.
    Kalaschnikow-Sturmgewehre sind bei den Sibirern besonders beliebt. Im Kriminellenjargon hat jedes Modelleinen Namen, niemand benutzt Abkürzungen, um Modell, Kaliber oder Munitionsart zu bezeichnen. Das alte AK 47 Kaliber 7,62 zum Beispiel heißt »Säge«, die Munition dafür »Köpfchen«. Das modernere AKS Kaliber 5,45 mit abklappbarer Schulterstütze heißt »Teleskop«, seine Patronen »Splitter«. Es gibt mehrere Projektile: Die mit schwarzer Spitze und verlagertem Schwerpunkt heißen im Jargon »Kippen«, die mit weißer Spitze, die Panzerungen durchschlagen, »Nägel«, und die explosiven mit rot-weißer Spitze »Funken«.
    Das gleiche gilt für die übrigen Waffen: Präzisionsgewehre heißen »Angelrute«, »Sichel« oder – mit eingebautem Schalldämpfer – »Peitsche«. Schalldämpfer heißen »Stiefel«, »Endstück« oder »Auerhahn«.
    Nach alter Sitte dürfen eine ehrbare und eine sündige Waffe nicht in ein und demselben Zimmer sein, weil sonst die ehrbare Waffe für immer kontaminiert würde und nicht mehr benutzt werden könnte, weil sie der ganzen Familie Unglück brächte. Sie müsste dann unbedingt in einem besonderen Ritual zerstört werden: Man wickelt sie in ein Laken, auf dem eine Geburt stattgefunden hat, und begräbt sie; nach sibirischem Glauben trägt alles, was mit der Geburt verbunden ist, eine positive Energie in sich, weil jedes Kind, das geboren wird, rein und frei von Sünde ist. Die Macht der Reinheit wirkt daher wie eine Art Versiegelung gegen das Unglück. Wo eine kontaminierte Waffe begraben wurde, pflanzt man gewöhnlich einen Baum, und falls der »Fluch« sich regt, wird er seine zerstörerische Kraft gegen den Baum richten und alles andere verschonen.
    Bei mir zu Hause gab es überall Waffen, Großvater hatte ein Zimmer voller ehrbarer Waffen: Gewehre unterschiedlicher Kaliber und Hersteller, zahlreiche Messer und haufenweise Munition. Dieses Zimmer durfte ich nurin Begleitung eines Erwachsenen betreten, und wenn das geschah, versuchte ich so lange wie möglich zu bleiben. Ich nahm die Waffen in die Hand, betrachtete sie in allen Einzelheiten, stellte tausend Fragen, bis sie mich schließlich unterbrachen:
    »Schluss jetzt mit den Fragen! Wart’s ab, bis du groß bist, dann darfst du sie selbst ausprobieren ...«
    Natürlich konnte ich es nicht erwarten, groß zu werden.
    Wie verzaubert beobachtete ich Großvater und Onkel, die mit den Waffen hantierten, und wenn ich sie auch mal anfassen durfte, kamen sie mir vor wie lebendige Geschöpfe.
    Manchmal rief Großvater mich. Dann musste ich mich ihm gegenübersetzen, und er legte eine alte Tokarev auf den Tisch, eine schöne, mächtige Pistole, die mich mehr faszinierte als alle anderen Waffen.
    »Siehst du diese Pistole?«, fragte er. »Das ist keine normale Pistole, sie besitzt Zauberkräfte. Wenn sich ein Köter in der Nähe aufhält, schießt sie von ganz allein, ohne dass man abdrückt ...«
    Ich glaubte natürlich an die magischen Kräfte dieser Pistole, und einmal, als Polizisten, Köter, bei uns eine Hausdurchsuchung machten, löste ich deshalb beinahe ein Riesendurcheinander aus.

    Mein Vater war gerade von einem langen Aufenthalt in Zentralrussland zurückgekehrt, wo er mehrere Werttransporte ausgeraubt hatte. Abends kamen die ganze Familie plus einige enge Freunde zum Abendessen zusammen. Während die Männer hinterher noch am Tisch saßen, um diverse Geschäfte und kriminelle Angelegenheiten zu besprechen, spülten die Frauen in der Küche das Geschirr, sangen dabei
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