Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
Vom Netzwerk:
sich, wenn er eines der Stockwerke vermieten kann. Mit neuen Träumen gehen wir durch das Spalier der göttlichen Titten zur Hauptstraße zurück und nehmen wieder Platz im Ambassador de Luxe.
    Träume, sie werden langsam generell zum Thema. Ihr Wesen. Ihre Lebensdauer. Ihre Aufgabe. Der Hinduismus nennt das Phänomen «Maya». Die Täuschung. Oder krasser: die Lüge. Wie ich drauf komme? Na ja, wir ackern weiter in diesem fabelhaften Auto bei fabelhafter Laune durch fabelhafte Straßen, fabelhaft im Sinne von dicht und dicht im Sinne von Atmosphäre. Millionen Menschen tun irgendwas, verkaufen irgendwas, laufen irgendwas hinterher, und dann kommen wir doch noch in ein Streikloch, und alles steht still. Nicht wirklich alles. Nur der Verkehr. Im Gegensatz zu den Staus, die ich aus anderen Großstädten kenne, stellt in Kalkutta jeder sofort seinen Motor aus. Unser Fahrer auch. Alle. Man hört nur noch Menschenstimmen, Kinderlachen, Fahrradklingeln. Aber keine Maschinen mehr. Der Effekt ist surrealistisch. Maschinenstille in der wahrscheinlich schönsten Stadt der Welt, wenn sie sauber wäre. Die Engländer haben geklotzt beim Bau der Stadt. Kalkutta sollte das schönere London in Indien werden. Und diese Häuser hier könnten tatsächlich auch in Venedig, Barcelona, Rom oder Prag stehen. Europäische Hochkultur, erzählt mit den Mitteln der Architektur. Und Geld spielte keine Rolle für die East India Company, deren finanzielle Möglichkeiten zu ihrer Zeit schier unbegrenzt schienen. Taubenscheiße und andere Widrigkeiten der nachfolgenden Jahrzehnte konnten das nicht zerstören, nur verhüllen, verstecken. Kalkuttas Schönheit liegt im Dornröschenschlaf. Zu Zeiten der Maschinenstille verstärkt sich dieser Eindruck ins Zauberhafte. Der Zauber währt nun schon seit mehr als zehn Minuten. Ich nutze ihn für folgende Träume: Auf meine Frage, ob ich im «Indian Coffee House» mit einem Laptop in Ruhe arbeiten könne, hat Raja ja gesagt. Er müsse nur ein paar Tage dabeisitzen, dann habe man sich an mich gewöhnt. Auf die Frage, ob er mir im Stadtpalast der Flussschlammkünstler einen Raum besorgen könne, hat er bereits «Ich will es versuchen» geantwortet, und beide Fragen weisen darauf hin, dass ich davon zu träumen beginne, in Kalkutta zu bleiben. Das beinhaltet den Traum, in Indien zu bleiben. Und das stellt alles bisher Geträumte auf den Kopf. Bisher träumte ich auf dieser Reise davon, wieder abzureisen. Das war merkwürdig genug, denn vor dieser Reise, um einen Schritt weiter zu gehen, war mein Traum genau diese Reise. Als er in Erfüllung ging, begann ich von ihrem Ende zu träumen, und heute, wo auch dieser Traum Wahrheit wird, träume ich plötzlich davon zu bleiben.
    Bin ich beknackt?
    Oder ist das normal? Verlieren wir unsere Träume, wenn sie in Erfüllung gehen? Und träumen wir sie dann immer in ihr Gegenteil? Aber sie gehen ja nicht alle in Erfüllung. Der Albtraum INDISCHER ZAHNARZT ist mächtiger als der Traum, in Kalkutta zu bleiben. Und zu schreiben. Zum Beispiel dieses Buch. Möglich ist natürlich auch, dass es in diesem Fall gar nicht um die Alchemie der Träume geht, sondern um ein anderes Phänomen. Ich habe davon gehört. Auch davon gelesen. Aber erlebt habe ich es noch nicht. Das Phänomen des letzten Tages. «Wie geht’s dir?», fragt Raja und sieht mich an, als könne er Gedanken lesen. Und was sage ich? Was soll ich schon sagen?
    «Scheiße, Mann, an meinem letzten Tag fängt Indien an.»

Wie hat Ihnen das Buch 'Shiva Moon' gefallen?
    Schreiben Sie hier Ihre Meinung zum Buch
    Stöbern Sie in Beiträgen von anderen Lesern

    © aboutbooks GmbH
Die im Social Reading Stream dargestellten Inhalte stammen von Nutzern der Social Reading Funktion (User Generated Content).

Informationen zum Buch
    Der Ganges ist Indiens Schicksalsstrom – heiliger Fluss und Lebenselixier. Helge Timmerberg ist ihm gefolgt, von der Quelle im Himalaya bis zum Delta am Indischen Ozean. Er durchstreift Rishikesh, die Stadt, in die die Beatles pilgerten und wo Autos, Alkohol und Fleisch verboten sind, trifft Sadhus, Bettelmönche, und zwei wahnsinnig schöne Geistheilerinnen. Er besucht das sechstausend Jahre alte Varanasi, die heiligste Stadt der Hindus und die Metropole der Astrologie   – Madonna, so heißt es, lässt sich dort regelmäßig die Sterne deuten. Sein Weg führt ihn in die Slums von Kalkutta, das «Haus der Toten» und das schönste Kaffeehaus der Welt.
    Mit großer Kraft und feinem Humor erzählt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher