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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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dass zeitnahe Termine im Verkehr von Kalkutta ein Risiko sind. Aber a) ist mein Abflugtermin noch nicht zeitnah, und b) streikt auch gerade keiner. Nicht hier. Und woanders ist mir egal.
    Die Straßen werden zunehmend interessanter. Angenehmer. Stimmiger. Ich finde das Wort nicht. Britische Architektur, indisches Leben. Von beiden Kulturen das Beste, wie mir scheint. Raja weist mich darauf hin, dass wir bereits im Norden von Kalkutta sind und in Kürze unser erstes Ziel erreichen werden. «Ein Kaffeehaus.» Das höre ich gern. Entweder ist Raja immer so drauf, oder er kriegt schnell den Geschmack seiner Klienten raus. Oder er hat es von Charlotte. Hat sie nicht gerade «du wirst es lieben» zu mir gesagt?
    Gegenüber der Universität von Kalkutta hält der Fahrer an, wir steigen aus und gehen durch einen breiten Hauseingang und dann ebenso breite Stufenzum ersten Stock hinauf. Schon das Treppenhaus berührt mich seltsam. Als wenn ein Zauber auf den Stufen läge, auf dem Geländer, den Wänden und auch dem Fenster. Beim Fenster ist die Sache einfach zu erklären, da ist es die Kombination aus dem Mittagslicht und dem Grün, auf das man blickt, weil ein großer Baum draußen steht. Beim Rest vom Treppenhaus erklärt sich die Alchemie der Atmosphäre dann nicht mehr ganz so flott. Da ist es eine Reihe von Zutaten. Erstens: das koloniale Haus. Die Materialien, Baustoffe, Fliesen, das Holz. Jeder Kratzer, Fleck und Schatten erzählt von der, ich schätze mal, hundertjährigen Geschichte. Zweitens, und natürlich steht das mit erstens im Zusammenhang: Hier wurde nie auf Teufel komm raus renoviert. Hier fehlte entweder das Geld oder die Tatkraft dafür. Oder beides. Drittens: die Menschen, die uns auf der Treppe entgegenkommen. Es sind nicht viele, aber ich weiß sofort, ich passe in das Gästeprofil dieses Etablissements. Im ersten Stock müssen wir nochmal durch eine breite Tür, und dann macht es rums! in mir. Charlotte, die das erwartet hat, breitet beide Arme aus: «Welcome to the Indian Coffee House!»
    Manche Leute sagen, es gibt den Fluss, der Ganges heißt, und es gibt den inneren Ganges. Den Fluss DEINES Lebens. Manche Leute sagen, der innere Ganges sei wichtiger für uns. Ich will mich da jetzt nicht einmischen, ich weiß nur, dass ich gestern an der Mündung des äußeren Ganges gewesen bin. Und jetzt stehe ich an der Mündung des inneren. Das gehört erklärt. Wer bin ich? Schwer zu sagen. Was bin ich? Das ist einfacher. Ich bin ein Schreiber. Und genusssüchtig.Und manchmal, wie alle Schreiber, arg autistisch. Manchmal auch nicht. Darf ich an dieser Stelle mal von Hemingway sprechen? Er meinte, dass Schreiben einsam macht. Das ist das Kreuz in unserem Beruf. Man kapselt sich ab, man verschwindet in seinem Buch. Ein gutes Kaffeehaus holt einen da raus. Weil es uns in Ruhe lässt, obwohl keine Ruhe ist. Menschliche Stimmen haben etwas von Vogelgezwitscher, wenn viele gleichzeitig sprechen, nicht laut, nicht schrill, sondern so gedämpft, wie es in Kaffeehäusern Vorschrift ist. Dann sind Stimmen sogar ein bisschen wie Wasser und Wind, wie Plätschern und Rauschen. Menschliche Stimmen sind eine natürliche Geräuschkulisse, die eigentlich immer angenehm ist. Und geschenkt wird. Sie erwartet keine Aufmerksamkeit, im Gegenteil. Je weniger du in den intimen Kosmos des Nachbartisches eindringst, desto glücklicher ist hier jeder mit dir. Kurz: Im Kaffeehaus können wir Autisten sein und sind trotzdem nicht allein. Und wenn wir gerade mal nicht autistisch unterwegs sind, auch dann ist das Kaffeehaus eine ideale Adresse. So viel zu den Belangen des Schreibens, nun zu denen des Reisens. Die sind im Grunde ähnlich. Auch Reisende kennen das Phänomen der Einsamkeit. Des Fremdseins. Des Sich-ausgestoßen-Fühlens. Die Aufgabe der Gastronomie ist ganz allgemein, ein Zuhause für Fremde zu schaffen, und innerhalb dieses Zuhauses sind die Kaffeehäuser die Wohnzimmer. Egal, wo du bist, und egal, wie weit weg das ist von dem Ort, wo Mutter schläft – ein Wohnzimmer, das zu dir passt, wartet in jeder Stadt. Fast. Es gibt Städte, in denen ich keins gefunden habe, und in die gehe ich freiwillig kein zweites Mal. Es gibt,andersherum, aber auch Städte, die ich nur wegen eines bestimmten Kaffeehauses immer wieder gern besuche. Hier meine schnell dahingeworfene Hitliste. Das «Café de l’Opera» in Barcelona. Das «Café Glacier» in Marrakesch. Das «Café Sperl» und das «Café Sperlhof» in Wien. Das «Café Monserrate»
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