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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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Rupien», sage ich.
    Raja schwankt zwischen Schock und Lachen. Letztlich entspannt es ihn. So blöd wie ich war er nun doch wieder nicht. «Du hast ihm den Wochenlohn eines Taxifahrers dafür gegeben, dass er dich zwei Stunden gezogen hat?!» Ja, das habe ich. Und der jungen Bettlerin habe ich im Gegenzug nur ein Prozent von dieser Summe gegeben. Ich habe viel Blödsinn gemacht. Gestern. Heute nicht. Aber warten wir es ab. Das tun wir vor einem Chai-Shop und schauen über den Ganges der Fähre entgegen. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie hier ist. Zwei Boote mit bunten Segeln sind auf dem Fluss, und zwei Mädchen schöpfen nicht weit von uns Wasser aus einem Brunnen. Eine hält die großen Krüge, die andere pumpt. Beide machen den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben ohne Wasserleitung sehr zufrieden sind. «Okay», sage ich, «das war ein erfolgreicher Tag. Wenn wir wieder in Kalkutta sind, sollten wir einen drauf trinken, Raja, meinst du nicht?»
    Raja antwortet nicht.
    Die Fähre kommt, wir setzen über, wir steigen in unser Festland-Taxi, wir ackern los. Es wird eine schweigsame Rückfahrt. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Woran Raja denkt, ist seine Sache, meine Gedanken drehen sich um Wochentage. Heute ist Montag. Wenn ich es schaffe, morgen (Dienstag)einen Flug von Kalkutta nach Delhi zu kriegen und am Mittwoch einen von Delhi nach Deutschland, dann bin ich Donnerstag beim Zahnarzt. Wenn ich erst am Mittwoch in Delhi eintreffe, schaffe ich es nicht vor Freitag, bei ihm zu sein. Freitags hat seine Praxis aber nur bis mittags auf. Und ich lande nicht in Hamburg. Ich lande in Berlin. Eineinhalb Stunden Zugfahrt sind da noch in Rechnung zu stellen. Man wird sich vielleicht fragen, wie man eine einfache Rechnung wie diese mehr als zweimal im Kopf durchgehen kann. Ich mache es wieder und wieder, ich bin darin gefangen wie in einem Hamsterrad. «Wenn ich es also schaffe, morgen   …»
    Mittlerweile ist es dunkel geworden, und wir sind kurz vor Kalkutta und kurz vor der Grenze, an der so ’ne Reise keinen Spaß mehr macht. Die Laster, die Auspuffrohre, die schwarzen Wolken, die da rauskommen, das Hupen, die Schlaglöcher, der Rücken, die Nerven, der Zahn. Vor allem auf ihn, aber auch auf alles andere muss ich langsam dringend seriösen Alkohol schütten. Ich spreche Raja also nochmal drauf an. Jetzt antwortet er. Es gibt zwei Möglichkeiten, sagt Raja und korrigiert sich sofort. Es gibt natürlich jede Menge Möglichkeiten, und er kennt sie alle, aber zwei sind empfehlenswert. Bei der einen kriegt man den besten Alkohol in der Stadt. Der Haken: Es kommen nur Männer. Nein, sage ich, das muss nicht sein. «Okay», sagt Raja, «dann gehen wir in die ‹Sunrise Bar›. Sie ist gleich neben dem ‹Fairlawn›. In etwa einer Stunde sind wir da.» Eine Stunde?! Obwohl wir bereits am Stadtrand von Kalkutta sind? Aber er soll Recht behalten. Ich vergesse einfach immer wieder, dass eine Stadt mit vierzehnMillionen Einwohnern was anderes ist als zum Beispiel so ein Dorf wie Berlin.
    Sudder Street. Es ist geschafft. Wir gehen nicht schnurstracks in die Bar, sondern erst ins «Zürich» essen, dann suchen wir eine Apotheke, um für mich etwas Medizinisches zum Desinfizieren des Zahnfleischs zu finden. Falls der Alkohol den Job nicht macht. Wir finden die Apotheke nicht auf Anhieb und sind deshalb an die zehn Minuten auf der Straße, und in dieser Zeit fallen mich tatsächlich sieben Rikschafahrer an. Und bei allen ist es dasselbe. Sie sehen mich, sie lassen alles stehen und liegen, sie laufen auf mich zu, sie lachen und strahlen und bieten mir an, mich ÜBERALL hinzufahren. Sie feiern mich geradezu. «Du bist ja ein Heiliger auf dieser Straße», sagt Raja und grinst. Er grinst noch eine ganze Weile. Erst als wir die Bar erreichen, hört er auf damit. Er lässt mir den Vortritt, und während ich mich auf einen Hocker setze, sehe ich, wie er mit ernstem Gesicht zur Toilette eilt. Bis er wieder rauskommt, sammle ich schon mal Eindrücke von dem Etablissement.
    Das Hotel hat vier Sterne, aber die Bar hat keine Fenster, und auch das künstliche Licht fällt äußerst spärlich, und selbst das wird noch gedämpft. Ich nehme an, dass es mit dem schlechten Image zusammenhängt, welches Spirituosen in Indien haben. Man will im Dunkeln munkeln, unter Gleichgesinnten. Mir gefällt das nicht, auch nicht die Atmosphäre. Es scheint, dass alle hier ein schlechtes Gewissen haben, bis auf den Barmann. Er lebt von der Hoffnung seiner
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