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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame
Autoren: Joerg Kastner
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ERSTES BUCH

Kapitel 1
    Der Geistermönch
    Sie wird sterben, und ich kann es nicht verhindern.
    Der große schwarze Vogel, Sendbote des Todes, hat seinen Horst auf dem Mondberg verlassen und ist unterwegs, um seine mächtigen Schwingen über sie zu breiten. Sie ahnt es schon lange, und jetzt, da sich das Verhängnis den alten Mauern von Notre-Dame nähert, füh-le ich es auch. Ihr Entschluß, nicht zu fliehen, steht unverrückbar fest, und ich habe mein Schicksal an ihres gekettet. Doch kann ich nichts weiter tun, als auf die zu warten, die sie zu retten vorgeben und ihr doch den Tod bringen werden. Der schwarze Vogel wird kommen. Ich weiß es, nicht im Kopf, aber tief drinnen in meinem verzweifelten Herzen.
    Dunkle Nacht, ewige Verbündete des Todesvogels, hat sich über Paris gesenkt, und die Häuser rund um die Kathedrale sind nur noch schemenhafte Wesen, kauernde Raubtiere, bereit zum Sprung. Die Seine ist eine riesige Schlange und ringelt sich, dem rätselhaften Ouroboros gleich, um die Insel, jeden Fluchtweg versperrend. Alles hat sich verschworen, um ihr das junge Leben zu rauben.
    Um mich abzulenken von den düsteren Gedanken, bin ich in meine Zelle auf den Nordturm gegangen, habe die zweischnabelige Lampe auf dem Tisch entzündet, Papier, Tintenfaß und Feder zurechtgerückt und beginne, meine Geschichte, die zugleich die ihre ist, aufzu-schreiben. Ich weiß nicht, ob ich diese Aufzeichnungen werde beenden können, ob fremde Augen sie jemals lesen werden. Höre ich nicht schon ein dumpfes Dröhnen, die tausendfachen Schritte jener, die vom Wunderhof kommen und sich zu Vollstreckern des Verhängnisses auf-schwingen, ohne zu ahnen, daß sie Satans Willen erfüllen? Vielleicht komme ich dennoch bis ans Ende, wird mein Bericht den Menschen eine Warnung sein, sich nicht die Rolle Gottes anzumaßen, indem sie unbändige, zerstörerische Kräfte entfesseln. Kräfte, die stärker sind als jeder Mensch.
    Der Ort, an dem ich dies niederschreibe, die Kathedrale von Notre-Dame zu Paris, ist nur scheinbar ein friedlicher Platz der Besinnung und inneren Einkehr. Irgendwo in ihren unzähligen Kammern und Ecken, ihren Kapellen und Türmen birgt Unsere Liebe Frau ein Geheimnis, dessen Entschleierung über das Schicksal der Menschheit entscheidet. Und ich verfluche den Mann, der ausgerechnet mich dazu ausersehen hat, dieses Geheimnis zu lüften.
    Belauern mich die finsteren Kreaturen der Kathedrale, das bucklige Ungetüm und sein gestrenger Meister? Auch sie suchen das Geheimnis von Notre-Dame zu ergründen. Ob es ihnen gelingen wird oder mir, weiß ich nicht. Nur eins scheint mir sicher: Mein Schicksal wird sich an diesem Ort, in dieser Stadt erfüllen.
    Doch ich greife vor, sollte besser am Anfang beginnen, ein halbes Jahr in der Zeit zurückeilen zu jenem Winter, als ich voller Hoffnungen nach Paris kam. Nicht ahnend, daß eine unbekannte Macht mich zu ihrem Spielball gemacht hatte, zu einem Bauern auf dem unüberschau-baren Schachbrett, dessen Felder die verwinkelten Pariser Gassen bilden. Der Weg, der mich zu Notre-Dame führte, war längst von fremder Hand vorgezeichnet. Hätte ich es geahnt, wäre ich wohl sogleich umgekehrt, hätte mich nicht auf dieses Spiel um Leben und Tod, um himmlisches Glück oder ewige Verdammnis eingelassen. – Zu spät.
    Ich wollte in Paris ein neues Leben beginnen und nahm, als ich zwei Tage vor Weihnachten das Saint-Michel-Tor durchschritt, den lärmenden Trubel der großen Stadt begierig in mich auf. Nicht im entfernte-sten erwartete ich, daß ich schon bald daran denken würde, meinem Leben ein Ende zu setzen, daß ich zum gesuchten Mörder werden sollte, daß eine finstere Gestalt mir auflauerte – der Geistermönch …

    In der wolkendüsteren Nacht zum sechsten Januar Anno Domini 1483 verwünschte ich den Satan Johannes Gutenberg mitsamt seiner schwarzschmierigen Druckerpresse und beschloß zu sterben. Nur durch den Tod, so glaubte ich damals, konnte ich dem Würgegriff der verwünschten Druckerzunft mit ihren monströsen Teufelsmaschinen entkommen. Ganz Paris schien ihren gnadenlosen Händen ausgeliefert, umklammert von schmutzigen, ölüberzogenen Fingern. Waren es keine dichten Wolkenbänke, die den Nachthimmel zusätzlich verdun-kelten, sondern schwarze Himmelsdämonen, Sendboten einer neuen düsteren Zeit, die gar nach diesem Deutschen, Gutenberg, sich einmal nennen würde? Mich schauderte bei diesem Gedanken, als mein Blick über das Gewirr der Dächer, Türme und Zinnen von
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