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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame
Autoren: Joerg Kastner
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war nur mit Geld zu erkaufen, worauf Gevatter Chabert achtete. Aber nicht mit Geld vom Geistermönch, worauf der fette Wirt ebenfalls achtgab.
    »Verfluchter Geistermönch!« entfuhr es mir. »Was hat es mit ihm auf sich?«

    »Ihr seid wohl nicht aus Paris, Herr?«
    »Wahrlich nicht. Und hätte ich geahnt, wie es mir hier ergeht, wäre ich niemals hergekommen.«
    »Seit Jahr und Tag, vielleicht auch schon länger, spukt des Nachts der Geistermönch herum.«
    »Was tut er denn?«
    »Er bringt den Leuten Unglück.«
    »Woher weiß man das?«
    »Weil er der Geistermönch ist.«
    Wer will sich anmaßen, zu widerlegen, was ein schlichtes Gemüt für Logik hält? Ich tat es nicht und fragte Marianne statt dessen nach einem Schlafplatz.
    »Jedes Gasthaus ist bis auf den letzten Winkel gefüllt. Von der ganzen Ile de France sind sie gekommen, um in Paris den Dreikönigstag zu feiern. Versucht es doch bei Notre-Dame, Herr. Dort seid Ihr wenigstens sicher vor bösen Geistern.«
    Wie unrecht sie damit hatte, konnte Marianne nicht wissen. Und ebenso wenig ich, der ich ihren Rat befolgte und mit kauendem Mundwerk auf die große Kathedrale an der Ostspitze der Insel zuhielt. Wie soll der Mensch ahnen, daß Gottes Haus den größten aller Dämonen beherbergt? Hätte ich es geahnt, ich hätte Paris wohl noch in jener Nacht verlassen. Doch damals erschien mir Notre-Dame de Paris als ein Ort der Zuflucht, nicht des Grauens.
    Voller Gottvertrauen schritt ich durch die Rue Saint-Christophe, geradewegs auf die vor mir in den Himmel wachsende Kathedrale zu.
    Notre-Dame ragte majestätisch aus dem Gewirr schmaler Gassen und enger Häuser auf, die sich beinahe ängstlich in den Schatten des Gotteshauses drückten. In seiner Gewaltigkeit erinnerte es an den Turm zu Babel. Ein erhabenes, verwirrendes Konglomerat aus Blei und Glas, Mörtel und Stein.
    Doch war die Kathedrale nicht leblos, wie der Stein es verhieß. Als ich über den düsteren Vorplatz schritt, vernahm ich ein vielfältiges Atmen und Schnarchen, als hätten sich sämtliche Teufel der Hölle hier zur Ruhe niedergelassen. In jedem Winkel, unter jedem Mauervorsprung lag oder kauerte eine zerlumpte Gestalt. Die Erinnerung an den nächtlichen Überfall kehrte zurück, und ich drückte die auf so wundersame Weise wiedergewonnene Geldkatze fest an meinen Leib.
    Zu meinem Erstaunen fand ich das Hauptportal verschlossen und in seinem Schatten eine Vielzahl Schlafender. Bei meinem ungeschickten Versuch, die Treppe zu erklimmen und zum Tor zu gelangen, trat ich auf eine Hand und erntete einen gotteslästerlichen Fluch mit heftiger Beschimpfung: »Paß doch auf, du Blödian! Gehörst wohl zur Gilde der Blinden, daß du die Schläfer nicht siehst!«
    »Ich will nur in die Kirche.«
    »Komm morgen wieder.«
    »Nachts schlafe ich lieber als bei Tag.«
    »Aber nicht in Notre-Dame.«
    »Es ist in Frankreich allgemeiner Brauch, daß die Kirchen den Ob-dachlosen eine Ruhestätte bieten.«
    »Aber nicht Notre-Dame.«
    »Warum nicht?«
    »Frag nicht mich, Bruder, sondern Frollo.«
    »Dom Claude Frollo?«
    »Ja«, hauchte der Bettler unter mir und bekreuzigte sich ungelenk.
    Ein bärtiges, schorfiges Gesicht reckte sich mir entgegen. »Bist wohl nicht aus Paris? Merk dir, der Archidiakon von Notre-Dame hält nichts von uns Krippenreitern. Mag uns fast sowenig wie die Ägypter und hält sein großes Gotteshaus vor uns verschlossen. Deshalb liegen wir vor dem Portal und nicht drinnen.«
    »Wer sind die Ägypter?«
    »Die Zigeuner.«
    »Weshalb nennst du sie Ägypter?«
    »Tu ich nicht, kommt von Frollo.«
    Ich hörte die Worte, doch ich begriff sie nicht und zeigte auf die beiden Seitenportale. »Warum liegt hier in jeder Ecke ein Schläfer, dort aber ist niemand?«
    »Weil die Seitenportale verflucht sind, noch verfluchter als dieses ganze Bauwerk«, grunzte der Bärtige und drehte sich auf die Seite, um weiterzuschlafen.
    Ich fühlte mich so zerschunden und müde, daß jeder Fluch mir gleichgültig war. Was sollte mir schon zustoßen, nachdem ich eine Begegnung mit dem gefürchteten Geistermönch nicht nur unbescha-det, sondern gar auf höchst vorteilhafte Weise überstanden hatte! Also steuerte ich unbekümmert das südliche Seitenportal an, das von den Mauern des Hôtel-Dieu flankiert wurde.
    Ein harter Griff an meine Schulter, und ich wurde zurückgerissen.
    »Bist du des Teufels, Bruder?« schnaubte der Bärtige, der sein Nachtlager verlassen hatte und nun mit geweiteten Augen vor mir stand;
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