Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame
Autoren: Joerg Kastner
Vom Netzwerk:
arm, sondern hast nur kein Geld.« Der Laienbruder schmunzelte. »Na, die Geschichte nenn ich nicht neu, aber zum Narrenfest soll dein Magen nicht knurren. Einen Sol hat der alte Philippot Avrillot für dich übrig.«

    Ich hielt seine Hand fest, die unter das Gewand zur Börse langte. Der Mann gefiel mir, und ich wollte seine Güte nicht ausnutzen. »Haltet ein Maître. Ich habe Geld, fand nur kein Quartier für die Nacht.«
    Er starrte mich ungläubig an und wollte etwas erwidern, doch sein Blick wurde abgelenkt, glitt zur Seite und verharrte auf einer schmalen, dunklen Gasse am Hôtel-Dieu. »Schön, wenn du ohne meine Hilfe auskommst. Ich habe soeben einen Bekannten erspäht«, murmelte er geistesabwesend und fügte einen Abschiedsgruß an. Dann verschwand er in der krummen Gasse, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
    Bevor die Schatten der eng zusammenstehenden Häuser ihn verschluckten, glaubte ich eine zweite Gestalt zu sehen, Maître Philippots Bekannten. Daß dieser, nur ein dunkler Umriss im Zwielicht, mich an den geheimnisvollen Geistermönch erinnerte, war sicher nicht mehr als ein Zufall, ein nahe liegender Eindruck nach den Erlebnissen der vergangenen Nacht.
    Mit einem Mal standen diese seltsamen Ereignisse wieder vor mir, so lebhaft und gleichzeitig unwirklich wie ein schweißtreibender Alptraum. Von plötzlicher Angst ergriffen, faßte ich unter meinen zerfled-derten Mantel – und atmete auf, als ich meine Börse fühlte. Also doch nicht nur ein Traum! Fast liebevoll zog ich den Lederbeutel hervor.
    Doch was war das? Das Band war geöffnet, die Geldkatze leer! Un-gläubig starrte ich in das schlaffe Säckchen. War ich unvorsichtig gewesen und hatte die Börse nicht richtig verschlossen?
    Ich eilte zurück zum Hauptportal der Kathedrale, wo ich unter dem misstrauischen Blick eines der beiden Mesner hastig meinen Schlafplatz absuchte. Da lag nicht ein Sol, von einem Turnoser ganz zu schweigen.
    Und dann packte mich die Erkenntnis: Der Lump Colin hatte nicht aus brüderlichem Mitleid meine Nähe gesucht, er mußte mich im Schlaf beraubt haben. Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, doch die Mü-
    digkeit hatte mich betäubt. Der Bettler war mir gleich wie ein typischer S-Mensch erschienen: gewunden, verschlungen, mit Haken und Schnörkeln, doch aufgrund seiner gerundeten Bögen schwer zu fassen.

    Ich wünschte den Dieb zur Hölle, auf einen besonders heißen Platz gleich neben Gutenberg, und eilte auf die Gebäude des Hôtel-Dieu zu, von der Hoffnung getrieben, der Zölestiner möge sich noch in seiner mildtätigen Stimmung befinden. Aber ich fand ihn nicht, weder in der engen Gasse, die ich bis zu ihrem Ende entlangging, noch auf den angrenzenden Höfen. Als habe er sich mitsamt seinem Bekannten in Luft aufgelöst.
    Jetzt konnte mir nur noch der Rat des Unbekannten helfen, den sie Geistermönch nannten. Auch ohne meinen äußeren Adam aufzuput-zen, mußte es mir gelingen, eine Anstellung zu erhalten. Also, auf zum Justizpalast!
    Während ich das Hôtel-Dieu verließ, meldete sich mein Magen mit einem veritablen Knurren, und zugleich zerrte, wie schon so häufig in den letzten Tagen, die Faust des Hungers an meinen Eingeweiden. Wie um mich zu verspotten, gerade jetzt, da ich abermals ohne einen Sol war. Halblaut verfluchte ich meinen Hunger und achtete nicht auf das, was um mich her geschah. Ein warnender Zuruf, der schrille Schrei einer Frau, rettete mich in letzter Sekunde.
    Ein Reiter, der aus den Winkeln des Hôtel aufgetaucht war, sprengte direkt auf mich zu, wohl in der Erwartung, ein zerlumpter Bettler werde schon zurückweichen. Dank der Warnung tat ich es mit einem weiten Satz, verlor dabei das Gleichgewicht und landete in einem Dreck-haufen.
    Dicht vor mir jagte ein kräftiger Apfelschimmel in leichtem Galopp vorüber. Der Reiter war ein kantiger, grimmig dreinschauender Mann in der Tracht eines wohlhabenden Bürgers. Rücksichtslos bahnte er sich einen Weg durch die zusehends voller werdende Rue Neuve. Daß er fast einen Menschen getötet hätte, schien ihm entweder entgangen oder vollkommen gleichgültig zu sein.
    Ächzend rappelte ich mich auf und suchte nach meiner Retterin. Dabei fingen meine Augen einen Blick auf, nur für einen halben Atemzug.
    Zu kurz, um das Gesicht der Fremden zu erfassen. War es schmal oder breit, von blonden oder von schwarzen Locken umrahmt, jugendlich straff oder schon von den Falten des Alters durchzogen? Ich konnte es nicht sagen, zu schnell
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher