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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame
Autoren: Joerg Kastner
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nachtdunklen Augen, in die sich die tagsüber so bunt leuchtenden Fenster verwandelt hatten, kam ich mir klein und unwichtig vor. Stolz und mächtig reckten sich die beiden stumpfen Türme nach oben, wie um von himmlischer Macht ihre nie vollendeten Helme zu erflehen. Ein Gedanke, der meine Verzweiflung nährte. Wenn selbst Notre-Dame nur eine Bettle-rin vor dem Herrn war, wie konnte dann ich, der arme, heimatlose Kopist Armand Sauveur de Sablé, Gnade erhoffen?
    Den meisten Gebeutelten mochte die Kathedrale Trost spenden, wie ihre Erbauer es erhofft hatten, aber seltsam, auf mich übte sie eine ganz andere Wirkung aus. Nicht prächtig und verheißungsvoll wie das Paradies erschien sie mir, sondern finster, unheimlich und schrecken-erregend. Die Schatten von Notre-Dame verwuchsen mit dem Dunkel der Nacht, verwoben sich mit ihm zu einem undurchschaubaren Geflecht von Verzweiflung und Verhängnis. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur nachträglich ein, jetzt, da ich um das Geheimnis von Notre-Dame weiß.
    Aus welchen Gründen auch immer, in jener grimmen Januarnacht waren meine Hoffnung und mein Lebenswille erloschen. Der alte Pont Notre-Dame schob seine windschiefen Häuserreihen wenige Schritte vor mir zum rechten Ufer der Seine. Ich trat zum Brückenkopf, an einer Ecke, wo weder Häuser noch Mauern den Zugang zum Fluss versperrten. An dieser Stelle fiel das Ufer ungewöhnlich steil ab. Ein Schritt nur, ein kleiner Sprung, und der Fluss würde mich mit tröstenden Armen umfangen und meinen knurrenden, schmerzenden Magen mit seinem Wasser füllen.
    War es der Herr im Himmel, der mich zurückhielt? Hatte er seine Engelsscharen gesandt, mich an Schultern, Armen und Beinen zu pak-ken und von der Todsünde abzuhalten? Doch kaum erspähten meine Augen die zerlumpten, dreckstarrenden Gestalten, die wie Auswür-fe der Finsternis aus dem Nichts aufgetaucht waren, wußte ich, daß es keine Engel waren. Eher das Gegenteil!
    Hände, die mehr Klauen waren, zerrten und rissen an meinen abgewetzten Kleidern. Triefäugige Gesichter, bösartige Fratzen oder Masken des Elends, starten mich halb flehend, halb befehlend an. Immer mehr dieser menschgewordenen Ratten krochen aus ihren Verstecken, lösten sich aus den Schatten und scharten sich um mich wie räuberi-sche Wölfe um ihre Beute.
    »Gnade, Monsieur!« – »Herr, erbarme dich unser!« – »Einen Sol für einen Blinden!« – »Ein Stück Brot für einen Krüppel!« – »Eine milde Gabe für einen Lahmen, o Ehrwürdiger!« – »Der Allmächtige segne Eure Mildtätigkeit, Messire!«
    Die gekreischten, gequiekten und gestammelten Ausrufe mochten noch so flehend, schmeichlerisch, drängend und erbärmlich sein, bei mir waren die teils traurigen, teils abscheuerregenden Kreaturen an den Falschen geraten. Vergeblich erhob ich meine Stimme, um dem Bettlervolk klarzumachen, daß ich eher einer der Ihren war denn einer, der sich Mildtätigkeit erlauben konnte. Mir gelang es kaum, das lärmende Flehen zu übertönen. Vielleicht wollten die kotigen, ampu-tierten Gestalten jene Botschaft auch gar nicht hören. Meine Weige-rung, wie sie es wohl sahen, stachelte sie erst recht an, verwandelte ihr Betteln in ein Fordern. Sie schienen gewillt, sich mit Gewalt zu holen, was ich ihnen verwehrte. Schon riß mein löchriger Mantel, zerfetzt unter den Bettlerhänden.
    Und ich, der ich mich eben noch nach der Erlösung des Todes ge-sehnt hatte, bekam es mit der Angst zu tun. O Mensch, wie wankel-mütig ist dein Geist, wie täuschend dein Selbstmitleid, wie stark der Lebensfunke!
    Ich wollte davonrennen, vermochte aber nur einen Schritt zu tun.
    Ein garstiges Wesen, mehr Spinne als Mensch, schob sich vor meine Füße und brachte mich zu Fall. Mein Gesicht schlug in feuchten Mod-der, den die Nachtkälte noch nicht erhärtet hatte. Dicht vor mir das verhängnisvolle Wesen, das sich in grotesker Gewandtheit in meinen Weg geschwungen hatte, obgleich es weder Füße noch Beine besaß.
    Ein verhutzelter Kopf saß auf einem mageren Leib, der sich auf unverhältnismäßig kräftigen Händen und Armen fortbewegte, seit ein unbekanntes Schicksal ihm die Beine geraubt hatte. Mit fast zahnlosem Maul griente er mich an und verlangte als Wegzoll einen Sol von mir oder, besser noch, einen Gulden.
    »Warum nicht gleich zwei Gulden oder zwanzig?« grinste ich zurück und wußte selbst nicht, woher ich diese Frechheit nahm. Sie kam mich teuer zu stehen, als mir die Spinne einen schmerzhaften Schlag – oder
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