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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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versierter wird die Zahnbehandlung. Der Blick zurück dagegen verdirbt mir die Freude an historischen Filmen. Was immer an König Artus’ Tafelrunde auch sonst noch passierte, ich frage mich nur eins: Wie war das da eigentlich beim Zahnarzt? Wie sah DAS denn da aus? Selbstverständlich sind die Gründe für meine Angst in Kindheitserlebnissen zu suchen, aber auch in Reiseeindrücken. Ich habe das Blut an der Wand eines ägyptischen Zahnarztes gesehen,während er bohrte und dabei rauchte. Nein, Charlotte, nein, ich gehe nicht zu einem indischen Zahnarzt. Niemals!»
    «Aber Helge, für diesen Zahnarzt würde ich von London nach Kalkutta fliegen. Er ist absolut brillant. Er ist der Zahnarzt des Dalai Lama.»
    Wäre es nicht um einen Dentisten gegangen, hätte mich das überzeugt. Der Dalai Lama ist ein wunderbarer Mensch. Ein Ozean des Wissens; wann immer ich ihn habe sprechen hören, hat er nichts als die Wahrheit gesagt. Und immer aus dem Moment heraus. Nur die aktuellen News des ewigen Wissens, nicht die Zeitungen von gestern, die Konzepte, die spirituellen Fertiggerichte. Auf die Frage, warum er Windowshopping liebt, hat er geantwortet: «Es macht mir Spaß zu wissen, was ich nicht brauche.» Ist doch super, der Mann. Und bescheiden ist er auch. Ich habe ihn einmal in Dharamsala dabei beobachtet, wie er einen Zeremonienmeister zur Verzweiflung trieb, weil er sich nicht auf seinen Thron setzen wollte, sondern auf einen kleinen Hocker, der daneben stand. Immer wieder bat der Zeremonienmeister das Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, sich endlich dahin zu setzen, wo er hingehört, und immer wieder wollte «Seine Heiligkeit» auf den kleinen Hocker. Na ja, was heißt immer wieder. Das ging zehn Minuten so, und dem Dalai Lama hat das offensichtlich Spaß gemacht. Vielleicht macht er sich den Spaß jedes Mal, und der Job des Zeremonienmeisters ist der gefürchtetste im ganzen Orden. Nee, auf den Dalai Lama lass ich nichts kommen, der Mann ist erleuchtet. Aber genau das ist das Problem. Einen Erleuchteten fragt man nichtnach seinem Zahnarzt. Ein Erleuchteter kennt keinen Schmerz.
     
    Die Straßen von Kalkutta sind mal so und mal so. Aber nie unbelebt. Was mir generell an ihnen gefällt, ist die Fröhlichkeit, mit der hier vieles geschieht. Oder nicht geschieht. Das hat mit dem Klima zu tun und mit den Menschen, und ich gehe eigentlich davon aus, dass da ein Zusammenhang besteht. Zwischen Klima und Bengalen. Der Winter in Kalkutta ist so warm wie der Sommer in Südfrankreich, nur ein wenig feuchter, aber es ist nicht so feucht wie in der Zeit von Mitte Juni bis Anfang Oktober. Das nennt man jedoch eh nicht mehr feucht. Das nennt man Monsun. Jetzt, Ende Oktober, ist es perfekt. Wer es sich erlauben kann, arbeitet mit nacktem Oberkörper am Straßenrand oder trägt Saris aus Seide oder Hosen aus Leinen, aber das freundliche Klima streichelt auch alle, die billigere Stoffe tragen, es streichelt auch die Armen. Selbst die Bettler sind fröhlich. Sie zeigen es nicht gern, nur manchmal sind sie unbedacht, wie der Junge an der letzten Kreuzung. Durch Kalkutta zu fahren bedeutet, an jeder Kreuzung, an der man halten muss, eine wenn auch inoffizielle, so doch gesellschaftlich akzeptierte Armensteuer zu zahlen. Ein oder zwei Rupien. Der Junge klebte also an der Seitenscheibe des Ambassador und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes. Dazu rieb er seinen Bauch. «Hungry, hungry!» Ich gab ihm zwei Rupien. Er entspannte sich sofort, aber als er nachgezählt hatte, wütete sofort wieder der Hunger wie ein wildes Tier in seinen Eingeweiden. Raja griff ein. Er sagte etwas auf Bengali, und offensichtlich war es einScherz, denn der Junge lachte schallend los. Als er realisierte, dass er sich als Bettler danebenbenahm, war es bereits zu spät, denn wir hatten Grün.
    Zu dieser klassenübergreifenden Fröhlichkeit auf den Straßen von Kalkutta kommt noch ein gewisses Laisserfaire hinzu, das anders als in anderen indischen Großstädten nicht allein mit dem Fatalismus der Hindus zu erklären ist, sondern auch ein paar kommunistische Nuancen hat. Seit dreißig Jahren ist die KP in der Kommunalpolitik am Zug. Natürlich werden die wichtigsten Gesetze in New Delhi gemacht, aber in Kalkutta werden sie gedeutet, gebogen, gedreht und, wenn alles nichts hilft, mit Streiks bekämpft. Kalkutta ist die Streikhauptstadt des Subkontinents. Irgendwer streikt jeden Tag. Und fast immer trifft es den Verkehr. Alle Reiseführer betonen deshalb,
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