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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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in Havanna. Das «Café Russischer Zar» in Belgrad. Das sind alles klasse Plätze, mit einer Atmosphäre, die man wie Kuchen anschneiden kann, aber das, was ich jetzt gerade betrete, ist definitiv, absolut und zweihundertprozentig die Mutter des Kaffeehauses. Mindestens die Mutter.
    Erster Eindruck: groß, ohne wie ein Saal zu wirken. Nächster Eindruck: hohe Decken. Übernächster Eindruck: Alle vier Wände sind ein einziges, ineinander übergehendes Gemälde, das die Zeit in Komplizenschaft mit dem feuchten Klima geschaffen hat. Man sagt ja, dass in Weiß alle Farben verborgen sind, aber wenn die Jahre drübergehen, dominiert Gelb das Geschehen. Gelb in allen Facetten, organisch gemischt. Oder soll man sagen gewachsen? Geflossen? Geblättert? Angeraucht? Seit Jahrzehnten mit Nikotin nachgebessert? Dazu die Sonne. Wo sie durchs Fenster fällt, schafft sie Logen, kleine Ecken, fast Inseln. Licht und Schatten sind die Raumteiler im «Indian Coffee House», und sie wandern mit den Stunden. Jeder Tisch ist mal dran. Und fast jeder besetzt. Dazwischen laufen Kellner mit Turbanen und breiten Gürteln. Und, ach ja, über allem thront (oder wacht) als einzige Dekoration in diesem Lokal eine gerahmte Schwarzweißfotografie, die den größten Sohn der Stadt zeigt. Und eigentlich einen der größten überhaupt, denn außer ihm hat es niemand in der Geschichte der Menschheit zum Heiligen undLiteraturnobelpreisträger in Personalunion gebracht. Auf dem Foto hat er lange weiße Haare, einen langen weißen Bart, und seine Augen strahlen gleichzeitig Güte und Intelligenz aus, was eine seltene Kombination ist. Und noch etwas. Das Bild ist nicht überlebensgroß, obwohl hier reichlich Platz dafür wäre. Es hat ein bescheidenes, fast intimes Format, aber gerade durch die Reduktion wirkt es in dem gewaltigen Quadrat der vergilbten Wand wie auf den Punkt gebracht. Rabindranath Tagore. Er hat mit siebzehn zu schreiben begonnen und erst zwanzig Minuten vor seinem Tod damit wieder aufgehört. Ein heiliger Dichter wacht über dem schönsten Kaffeehaus, das ich je betreten habe, und man kann vielleicht verstehen, warum mein innerer Ganges darin seine Mündung sieht, noch bevor ich mich gesetzt habe.
    «Und nun kommen wir hübsch wieder ein bisschen runter.» Das war mein Zahn.
    So ist es. Solange die Ursache des Schmerzes nicht behoben ist, mag es der Schmerz nicht, wenn man ihn vergisst. Er meldet sich fast wütend zurück, während man so etwas Oberknuspriges isst wie die Pokaras des Hauses. Es gibt sie an jeder Ecke, in jedem Loch, aber nirgendwo werden sie so knusprig gebacken wie hier. Sie sind delikat, und sie tun weh, genauso wie der Kaffee. Charlotte und Raja erzählen mir unterdessen, was ich über das «Indian Coffee House» wissen muss. Es war immer der Treffpunkt der Intellektuellen, Künstler und Revolutionäre. Hier wurde der Aufstand gegen die Engländer besprochen. Heute bespricht man hier den permanenten Aufstand gegen New Delhi. Auch den gegen Bollywood. «Kalkutta macht richtigeFilme», sagt Charlotte, «keine Operetten. Und was meinst du, Helge, willst du nicht mal eine Schmerztablette nehmen? Ich sehe doch, du liebst das hier und versuchst es zu genießen. Aber du kannst es nicht. Ich würde sagen, es ist Zeit für die Pille.»
    «Ich habe keine dabei.»
    «Aber ich.»
    Charlotte holt eine Packung aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Raja ist begeistert. Das Mittel ist das stärkste, was es gibt. Und gleich 600   mg pro Tablette. Die normalen haben 200   mg . Raja weist mich darauf hin, dass bei indischen Schmerzmitteln «mg» für «Mahatma Gandhi» steht.
    «600   Mahatma Gandhis arbeiten in dir, wenn du eine von diesen Pillen nimmst. Du wirst sehen, es wird dir gleich besser gehen.»
    «Du kannst es aber auch gleich mit 1200   Mahatma Gandhis probieren», sagt Charlotte.
    Sie meinen es wirklich gut mit mir.
    Ich nehme eine Tablette und muss jetzt etwa zwanzig Minuten nichts anderes tun als warten. Ich verbringe die Zeit damit, darauf zu achten, wie der Schmerz nachlässt. Macht er aber nicht. Er nimmt nicht langsam ab, er wird schlagartig verschwinden, sagt Charlotte. Witziges Bild, denke ich. Sechshundert Mahatma Gandhis schlagen wie ein Mann zu. PEACE!, ihr verfickten Schmerzerreger, nein, SHANTI! Weil es Inder sind.
    Die Tablette wirkt, als wir das «Indian Coffee House» verlassen. Allerdings nicht so schlagartig wie gedacht, sondern eher wie ein DJ, der langsam und genießerisch ein Stück
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