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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon
Autoren: Helge Timmerberg
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ist, dass Charlotte und ich ab sofort die bisher unverbindliche Sightseeingtour auf Wohnungssuche fokussieren. Die da, mit den zwei Balkonen, die da, mit den hohen Fenstern, ein großer Raum reicht, aber es können auch zwei kleine sein. Holzdielen wären schön, nein, Voraussetzung. Auf keinen Fall Steinboden. Und auf gar keinen Fall Teppich. «Apropos Teppich», sagt Raja. «Haben wir dir eigentlich schon von dem erzählt, den wir gestern gesehen haben, Charlotte?» Die Geschichte von dem Kannibalenteppich an der Mündungdes Ganges erzeugt Heiterkeit im Ambassador, bis Raja den Fahrer anweist zu halten. Wir haben Kumar Tuli erreicht. Das Viertel, in dem Kalkuttas bildende Künstler beweisen, was man aus Flussschlamm machen kann.
    Heiliger Schlamm. Vom heiligen Ganges. Klar, dass sie nur Heilige und Götter daraus formen. Was die Götterskulpturen angeht, so ist das durchaus erotisch. Denn außer der grässlichen Kali sind alle anderen Göttinnen echte Schönheiten. Vollbusig, schmale Taille, super Arsch, und fast immer sind sie halb nackt dargestellt. Der Impuls, im Vorübergehen ihre prächtigen Brüste zu streicheln, ist kaum zu unterdrücken. Mein Gott, ich glaube wieder an Dich. Du hast Traumjobs geschaffen. Götterskulpturen aus dem Schlamm des Ganges zu formen gehört definitiv dazu. Darum machen ihn auch so viele. Wieder sieht man in jedem Haus jeden dasselbe tun. Charlotte fragt Raja, ob es hier Arbeitsteilung gibt. Ob die heterosexuellen Künstler die geilen Göttinnen und die schwulen Flussschlammformer die geilen Götter machen. Shiva, Krishna, Rama, alle haben breite Schultern, fließende Muskeln, Waschbrettbauch und kein Gramm Schlamm zu viel. Raja sagt, im Einzelfall könne das schon mal vorkommen, dass ein homosexueller Künstler sich hier seinen Traumgott zurechtfummelt, aber verallgemeinern würde er das nicht.
    Nachdem wir etwa zehn Minuten immer geradeaus durch den hinduistischen Götterhimmel gegangen sind, erreichen wir das Ziel der Führung. Den Star der Szene. Den Meister des Viertels. Er hat sich auf Büsten von indischen Heiligen spezialisiert. Seine Gandhis und Tagoresverkaufen sich in die ganze Welt. Aber auch seine heiligen Touristen. Momentan arbeitet er an einem besonders hübschen Albert Einstein. Das Gesicht der Relativitätstheorie. Hat dieser Mann nicht die Grundlagen für die Erfindung der Atombombe geschaffen? Gehört der überhaupt hierher? Mach deine Arbeit und sorge dich nicht um die Früchte, würde die Bhagavadgita dazu sagen. Jede andere Antwort wäre auch fatal, denn die Flussschlammkünstler müssten ihre Auswahlkriterien überdenken. Was ist mit Gandhi? Er hat nur Gutes getan. Die Engländer rausgeworfen, Indien befreit, aber die Früchte davon waren die Abspaltung Pakistans und großes Morden zwischen Hindus und Moslems. Schönen Gruß von Goethe. Man tut Gutes und schafft Böses. Auch gruselig: Man tut Böses und schafft Gutes. Es ist ein uraltes Spiel. Und wir haben weder die Regeln gemacht, noch steht es in unserer Macht, sie zu ändern. Wir können Raumschiffe bauen und den Mars kolonisieren. Aber die Beziehungskiste der Gegensätze werden wir nicht los. Wir können das Gute nicht von dem Bösen befreien.
    Das sind in etwa meine Gedanken, während ich Einsteins Haare streichle, als Nächstes fallen mir die 1,5   Millionen Kolibakterien wieder ein, die in einem Deziliter des Ganges sind. Sind die auch in seinem Schlamm? Die Frage beendet die Zärtlichkeiten. Ich schließe mich den anderen an. Sie wollen Tee, und da ist ein Chai-Stand. Der Teemann hockt neben seinem Topf auf dem Boden. Er schüttet Unmengen Zucker hinein. Das Ergebnis ist eine gelungene Kombination aus Heißgetränk und Süßspeise. Alle drei nehmen wir eine Zigarette dazu. Das Licht der Nachmittagssonne und dieses Viertel sind übrigens auch eine gute Kombination. Die Lehmwege, die offenen Werkstätten, die Götter und Göttinnen, alles sieht aus wie ein vergoldeter Planet. Auch der kleine Stadtpalast, auf den wir sehen. Ein kleiner Palast ist ein großes Haus. Zweistöckig, zwei große Terrassen, efeubewachsen. Raja war schon mal drin. Er sagt, in jedem Stockwerk ist nur ein Raum, aber der ist so groß wie ein Saal. Und Marmorboden überall. Das Schönste an alldem: Das Haus ist praktisch frei. Es gehört einem Engländer, der selten nach Kalkutta kommt. Nur der alte Hauswart wohnt mit seiner Frau darin. Raja verspricht, den Alten nach der Adresse des Engländers zu fragen. Vielleicht freut der
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