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Die Marionette

Die Marionette

Titel: Die Marionette
Autoren: Alex Berg
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    13. Mai
    Region Kundus, Afghanistan
    M it hellem Schimmer kündigte sich der Morgen hinter den schneebedeckten Berggipfeln des Hindukusch an. Im nächsten Augenblick schon glitt die Sonne über den Kamm und tauchte das Land in goldenes Licht. Es gab keine Dämmerung in Afghanistan, kein langsames Erwachen. Von einem Augenblick auf den nächsten war der Tag da, vertrieb die beißende Kälte und Dunkelheit der Nacht. Katja Rittmer verfolgte das grandiose Schauspiel, während sie auf dem Beifahrersitz des Sicherungsfahrzeuges dem Konvoi durch die karge Landschaft im Norden Afghanistans folgte. Obwohl sie schon seit einigen Monaten im Land war, war sie jedes Mal aufs Neue fasziniert von der wilden Schönheit, die sich ihr offenbarte. Sie riss eine neue Zigarettenpackung auf und beobachtete, wie die Sonne schnell höher stieg. Gleißende, brennende Helligkeit breitete sich aus, zeichnete scharfe Konturen und vertrieb die Schatten aus der Schlucht, auf die sie zuhielten. Landmarken tauchten auf. Katja erkannte die Brücke, den alten Baum daneben. »Die erste Etappe haben wir geschafft«, sagte sie zu Tobias, ihrem Fahrer, und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie kam nicht mehr dazu, sie anzustecken.
    Mit einem ohrenbetäubenden Krachen riss die Straße in einer Fontäne aus Staub und Gestein auf. Felsbrocken flogen durch die Luft wie Kieselsteine und mit ihnen das Sanitätsfahrzeug vor ihnen. Tobias trat hart auf die Bremse und riss das Lenkrad ihres Wagens herum, der schlingernd von der Schotterpiste abkam. »Spring!«, schrie er ihr zu, bevor er selbst die Tür aufstieß. Sie schlug hart im Sand auf, scharfkantige Steine bohrten sich trotz der schusssicheren Weste durch den Stoff ihrer Uniform. Metall ächzte und Scheiben barsten, als sich das gepanzerte Fahrzeug nur wenige Meter entfernt überschlug. In unmittelbarer Nähe schlug erneut eine Rakete ein. Katja warf sich zur Seite und legte schützend die Hände über den Kopf. Gestein prasselte auf sie herab. Sie musste eine Deckung finden. Auf allen vieren kroch sie hinter einen Felsvorsprung und drückte sich gegen den schroffen Stein. Ihr Atem ging schnell. Ihr Herz schlug wild. Weitere Detonationen erschütterten das Gelände. Dichter, gelbbrauner Staub nahm ihr die Sicht. Schreie, Gewehrfeuer zerrissen die Luft. Sie griff nach ihrer Waffe und legte an, als sich ein Schemen aus dem Staub löste und auf sie zustolperte. Erst im letzten Moment erkannte sie Tobias. Er hatte seinen Helm verloren, und in seinen Augen lag Todesangst. Sie sprang aus ihrer Deckung und riss ihn zu Boden. »Verdammt«, brach es aus ihr heraus. »Warum passt du nicht auf?« Ein Zittern durchlief seinen Körper, warmes Blut rann über ihre Finger und vermischte sich mit dem Staub. Er war tot.
     
    Unvermittelt war es vorbei. Katja schob sich vorsichtig aus ihrer Deckung. Nichts rührte sich.
Hit and run,
Zuschlagen und Verschwinden, das war die Taktik der Aufständischen, dieser Guerilla-Armee, die ihre Angehörigen überall versteckt hatte. In jedem der verdammten armseligen Dörfer mussten sie mit den Taliban und ihren Sympathisanten rechnen. Sie mischten sich unter die Bevölkerung, unerkannt, immer bereit für den nächsten Angriff. Katjas Finger schlossen sich fester um den Griff ihres Sturmgewehrs. Der Staub hatte sich gelegt, und sie starrte auf brennende Fahrzeugwracks, auf Leichen, die in der gleißenden Sonne lagen. So viele Tote. Katja schluckte und vermied den Blick in die starren Gesichter. Nichts rührte sich. Nur das Prasseln der Flammen und das Surren der Fliegen, die sich sofort auf den reglosen Körpern niederließen, waren zu hören. Sie kannte jeden einzelnen der Gefallenen, die auf dieser Fahrt unter ihrem Kommando gestanden hatten, die ihr vertraut und sich auf ihre Erfahrung verlassen hatten, diesen Konvoi zu sichern. Flüchtige Bilder tauchten vor Katjas innerem Auge auf, hier ein Lächeln, dort ein verlegener Blick. Sie erinnerte sich an den Klang ihrer Stimmen, Gesprächsfetzen, an ihre Hoffnungen und Ängste, und atmete gegen das Entsetzen an, das der Anblick der Leichen, gepaart mit diesen Erinnerungen, in ihr auslöste. Wenn sie überleben wollte, durfte sie es nicht zulassen. Nicht jetzt. Die Gefahr war noch nicht gebannt. Sie sicherte nach allen Seiten, dann huschte sie geduckt über das freie Stück zurück zur Straße, wo sich die übrigen Transport- und Panzerfahrzeuge wie dunkle Schatten vor der kargen Landschaft abhoben. Sie musste
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