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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Autoren: Nicholas Meyer
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Liste von Abscheulichkeiten rivalisieren, die Holmes dem Professor zuschrieb. Gegen meinen Willen drängte sich mir das Bild von Don Quixotes Erzfeind, dem Zauberer, auf.
    Die Tirade kam nicht zum Schluß, sie versickerte. Holmes’ schrille Verlautbarungen verebbten allmählich, erst zu unartikuliertem Gemurmel, dann zu Geflüster. Sein Körper hatte die Modulation seiner Stimme begleitet, erst mit energischem Aufundabschreiten, dann lehnte er gegen eine Wand, schließlich warf er sich wie unabsichtlich in einen Stuhl. Bevor mir klar wurde, was vorging, war Holmes in den Schlaf gesunken.
    Ich saß sehr still vor dem erlöschenden Feuer und betrachtete meinen Freund. Nie hatte ich ihn in solchen Schwierigkeiten gesehen, aber ich war im ungewissen, was sein eigentliches Problem war. Seine Redeweise ließ mich vermuten, daß er unter dem Einfluß einer schweren narkotischen Droge stand.
    Und dann kam mir ein fürchterlicher Gedanke. Zum zweitenmal in dieser Nacht entsann ich mich anderer Anlässe, bei denen Holmes von Moriarty gesprochen hatte: wenn er sich tief im Bann seines Kokains befand.
    Ich stahl mich vorsichtig zu dem Sessel, auf dem er offensichtlich erschöpft in sich zusammengesunken war, und zog seine Augenlider zurück, um die Pupillen zu untersuchen. Dann fühlte ich seinen Puls. Er war schwach und unregelmäßig. Ich überlegte, ob ich es wagen sollte, sein Jackett zu entfernen und seinen Arm nach den Spuren einer kürzlich erfolgten Einspritzung abzusuchen; aber ich wollte keinesfalls riskieren, ihn aufzuwecken.
    Ich setzte mich wieder hin und dachte nach. Ich konnte mich an Kokain-›Gelage‹ erinnern, die manchmal einen Monat oder länger gedauert hatten. Er injizierte sich dreimal täglich mit einer siebenprozentigen Lösung. Viele meiner Leser haben fälschlich angenommen, daß Holmes unsere Freundschaft dazu benutzte, sich von mir, dem Arzt, mit diesem schrecklichen Rauschgift versorgen zu lassen. In jüngster Zeit habe ich sogar Versionen gehört, nach denen meine Bereitschaft, Holmes Kokain zu geben, der einzige Grund für ihn war, sich mit mir zu befreunden. Einen Kommentar zu einer solchen unsinnigen Behauptung will ich mir ersparen. Es genügt wohl zu erwähnen, daß Holmes dergleichen gar nicht nötig hatte. Im neunzehnten Jahrhundert gab es keine Vorschrift, die einen Mann hinderte, soviel Kokain oder Opium zu kaufen, wie er wollte. Das war in keiner Weise ungesetzlich, und daher ist es vollkommen irrelevant, ob ich bereit war oder nicht, ihm Kokain zu verschaffen. In jedem Fall ist oft genug bewiesen worden, daß ich mich bemüht habe, ihm seine verwerfliche und selbstzerstörerische Gewohnheit auszureden.

    Hin und wieder war ich darin erfolgreich gewesen – oder vielmehr meine Überredungskunst in Verbindung mit einem neuen und interessanten Fall. Holmes brauchte seine Arbeit mehr als alles andere; konfrontiert mit wirklich herausfordernden und verblüffenden Problemen, war er in seinem Element. War er in eine solche Aufgabe verwickelt, so brauchte er keinerlei künstliches Stimulans. Er trank dann selten etwas Stärkeres als Wein beim Abendessen. Mehr erlaubte er sich nicht, wenn er an einem Fall arbeitete, ausgenommen enorme Mengen von Shag! *
    Aber solche reizvollen Aufgaben waren rar. War es nicht Holmes, der immer wieder den Mangel an Scharfsinn in kriminellen Kreisen beklagte? »Es gibt keine großen Verbrecher mehr, Watson«, war seine ständige und bittere Litanei, als wir noch zusammen in der Baker Street wohnten. War es möglich, daß Holmes nach meinem Auszug aus der Baker Street und in Ermangelung faszinierender Übeltaten dem bösen Einfluß des Kokains wieder verfallen war – und dieses Mal rettungslos?
    Es gab keine andere Erklärung dafür, es sei denn, die phantastische Mär, die er mir gerade erzählt hatte, war nicht erfunden. Hat man die plausiblen Lösungen eliminiert, so ist das, was übrigbleibt, die Wahrheit, mag es auch noch so unwahrscheinlich klingen. Das war eine von Holmes’ Maximen.
    Mit diesem Gedanken erhob ich mich, klopfte meine Pfeife am Kamingitter aus und beschloß, die weitere Entwicklung abzuwarten. Ich warf eine Wolldecke über die reglose Gestalt meines Freundes und drehte das Licht herunter.
    Ich bin nicht sicher, wieviel Zeit im Dunkeln vergangen war – es müssen ein, zwei Stunden gewesen sein –, denn ich dämmerte vor mich hin, als Holmes sich plötzlich bewegte und mich aufweckte. Einen Augenblick lang wußte ich nicht, wo ich mich
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