Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
Autoren: Nicholas Meyer
Vom Netzwerk:
das ist das Geniale und das Erstaunliche an ihm!« Er sprach mit Nachdruck, jedoch ohne seine Stellung vor dem Kamin zu verändern. »Der Mann durchdringt London – ja, die ganze westliche Welt –, und niemand hat je von ihm gehört.« Er stürzte sich in einen fast endlosen Monolog über den ›Professor‹. Ich traute meinen Ohren kaum und lauschte mit wachsender Verwunderung und böser Ahnung der Beschreibung seines bösen Genius, seiner Nemesis, wie er es nannte. Die Gefahr, die ihm von Luftgewehren drohte, vergaß er dabei ganz (er wäre allerdings zu dieser Stunde und in diesem Licht in meinem Wohnzimmer ohnehin ein schlechtes Ziel gewesen). Er stand auf, und während er zu dem ruhelosen Aufundabschreiten zurückkehrte, schilderte er mir die Einzelheiten einer Laufbahn voll jeder erdenklichen Verdorbenheit und Scheußlichkeit. Er berichtete, daß Moriarty aus einer guten Familie stammte und daß er, von Natur aus mit phänomenaler mathematischer Begabung versehen, eine vorzügliche Erziehung genossen hatte. Im Alter von einundzwanzig Jahren hatte er eine Arbeit über den Binomischen Lehrsatz verfaßt, die sich großen Erfolges in ganz Europa erfreute. Infolgedessen hatte er den Lehrstuhl für Mathematik an einer der kleineren englischen Universitäten erhalten. Aber der Mann besaß, zusammen mit seiner unglaublichen Geistesschärfe, erbliche Anlagen teuflischer Art. Es dauerte nicht lange, bis dunkle Gerüchte über ihn sich in der Universitätsstadt verbreiteten, und er mußte schließlich den Lehrstuhl aufgeben und nach London ziehen, wo er sich als Mathematiklehrer für die Armee niederließ.
    »Aber das war nur Tarnung.« Holmes beugte sich nach vorne und starrte mir ins Gesicht, wobei er seine Hände auf meine Stuhllehne stützte. Selbst im Dämmerlicht konnte ich erkennen, wie seine Pupillen sich mit ruheloser Intensität erweiterten. Und schon hatte er sein enervierendes Aufundabschreiten wieder aufgenommen.
    »Seit Jahren, Watson, habe ich eine Macht hinter einzelnen Verbrechern gespürt, eine tief wurzelnde, organisierte Macht, die auf immer gegen das Gesetz verschworen ist und ein schützendes Schild vor den Übeltäter hält. Wieder und wieder habe ich in Kriminalfällen verschiedenster Art – Fälschungen, Raub, Mord – die Gegenwart dieser Macht gefühlt, und ich habe ihr Vorhandensein auch in ungelösten Fällen deduziert, in denen ich nicht persönlich konsultiert worden war. Seit Jahren versuche ich, den Schleier zu zerreißen, in den diese Macht sich hüllt. Ich hielt einen dünnen Faden in Händen und folgte ihm unermüdlich, bis er mich nach tausend raffinierten Drehungen und Windungen zu dem gefeierten Mathematiker Professor A.D. Moriarty führte.«
    »Aber, Holmes –«
    »Watson, er ist der Napoleon des Verbrechens!« Mit einer plötzlichen Bewegung drehte er sich um und stand nun mit dem Rücken zum Feuer. Die Flammen im Hintergrund und der schrille, unnatürliche Klang seiner Stimme gaben seiner Erscheinung etwas Erschreckendes. Ich konnte sehen, daß seine Nerven bis zum äußersten gespannt waren. »Er ist der Organisator der Hälfte alles Üblen und beinahe aller unentdeckten Verbrechen in dieser großen Stadt und in den Annalen zeitgenössischer Kriminalität. Er ist ein Genie, ein Philosoph, ein abstrakter Denker – er sitzt bewegungslos wie eine Spinne im Mittelpunkt des Netzes. Aber das Netz hat tausend Fäden, und er kennt jede ihrer leisesten Regungen. Seine Handlanger mag man fassen, verhaften und an weiteren Untaten hindern, aber ihn – ihn  – rührt man niemals an, er wird nicht einmal verdächtigt!« *
    Und er schwatzte fort, teils inkohärent, teils deklamierend, als stünde er auf der Bühne des Old Vic. Er zählte die von dem Professor in Gang gesetzten Verbrechen auf, er sprach von seinem Sicherheitssystem, das ihn vor jeglichem Verdacht oder Schaden schützte. Er beschrieb mit einiger Befriedigung, wie es ihm, Holmes gelungen war, die Peripherie des Schutzwalls zu durchdringen, und wie des Professors Kreaturen dies entdeckt hätten und ihm auf der Spur seien – mit dem Luftgewehr.
    Ich tat mein Bestes, um die wachsende Besorgnis zu verbergen, die diese wirre Erzählung in mir hervorrief. Ich hatte nie eine Unwahrheit aus Holmes’ Mund gehört, und es war klar, daß es sich nicht um einen seiner gelegentlichen Scherze handelte. Es war ihm todernst, und er stammelte fast vor Angst und Schrecken. Kein menschliches Wesen auf dieser Erde konnte mit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher