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Kill Order

Kill Order

Titel: Kill Order
Autoren: Andrea Gunschera
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Prolog
     
    Mü nchen Ostbahnhof | Januar 2001
     
    E
    s schneite so heftig, dass Nikolajs Fußspuren sofort wieder unter einer Schneedecke verschwanden. Dort, wo er gestürzt war, benetzte Blut den vereisten Asphalt. Schwer atmend ließ er sich gegen die Wand der Unterführung sinken. Es dauerte Minuten, bis die Schlieren vor seinen Augen sich lichteten. Das Getöse eines Zugs hoch über seinem Kopf brach in die nächtliche Stille, hallte von den Brückenmauern wider und brachte die Betondecke zum Schwingen. Dann, als sich das Quietschen in der Ferne verlor, sank weißes Schweigen zurück in die Nacht.
    Er stieß sich von der Wand ab und schleppte sich weiter. Die Finger seiner rechten Hand waren klebrig vom Blut. Seine Schulter schmerzte nicht mehr, sondern fühlte sich taub an. Er wusste nicht, wie schlimm es war, wusste nur, dass er in kein Krankenhaus konnte, weil die Ärzte die Schussverletzung melden würden.
    Den gestohlenen Wagen hatte er auf der anderen Seite des Münchner Ostbahnhofs zurückgelassen, in einem Wohnviertel mit winterbleichen Jugendstilfassaden. Die Wunde, die er in der Toilette einer Autobahnraststätte verbunden hatte, wollte nicht aufhören zu bluten. In seiner Manteltasche ruhte die Beretta M9, mit der er in Berlin zwei Menschen erschossen hatte. Er hätte das Ding längst loswerden müssen, doch in seinem Zustand wagte er es nicht, unbewaffnet herumzulaufen.
    Ziellos drifteten seine Gedanken, glitten ins Leere und taumelten um die Frage, was schiefgelaufen war. Neben dem Gleisaufgang entdeckte er eine Telefonzelle. Ein Taxi bog in die Straße, die Scheinwerfer scharf umrissene Kegel im Schneetreiben. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Er hoffte, dass der Wagen vorbeifahren würde, aber der gelbe Mercedes stoppte vor den Treppen. Der Fahrer schaltete sein Licht aus und ließ den Motor laufen.
    Nikolaj wich ins Dunkel der Unterführung zurück. Er starrte auf die Kette kleiner Blutstropfen, die auf den Gehwegplatten zu frieren begannen. Mit etwas Glück hielt der Taxifahrer ihn für einen Betrunkenen und schenkte ihm keinen zweiten Blick. Doch das Blut war ein Problem. Er zog sich den Ärmel des Mantels über die Finger und schloss eine Faust darum, um die Tropfen mit der Hand aufzufangen. Zwei tiefe Atemzüge, dann hastete er über die Straße.
    Das Innere der Telefonzelle stank nach Rauch und Urin. Der Hörer entglitt ihm beim ersten Versuch. Mit zitternden Fingern warf er Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer.
    „Wo bist du?“, schnappte Francesco am anderen Ende der Leitung. „Die suchen mit Hundertschaften nach dir! Du hast Nerven, mich anzurufen!“
    „München.“ Nikolaj hatte Mühe, die Silben aneinanderzureihen. Die Müdigkeit, die vom Blutverlust herrührte, kroch ihm wie Eisnebel die Glieder hinauf. „Ich brauche einen Unterschlupf.“
    „Ich schicke dir jemanden. Wo finden sie dich?“
    Er sagte es ihm. Draußen auf der Straße kam Bewegung ins Schneetreiben. Drei oder vier Silhouetten. Er versuchte durch die beschlagenen Scheiben zu erkennen, was vor sich ging. Er fühlte sich plötzlich sehr verletzlich. In der gut ausgeleuchteten Telefonzelle stand er wie auf dem Präsentierteller.
    „Eine Stunde“, sagte Francesco.
    Nikolaj drückte den Hörer zurück in die Halterung, doch verfehlte die Gabel. Plastik krachte gegen das Glas. Hastig stieß er die Tür auf und taumelte ins Freie. Schnee fegte ihm ins Gesicht. Die Silhouetten gehörten einer Gruppe Jugendlicher, die betrunken und kichernd im Aufgang zu den Gleisen verschwanden. Der Motor des Taxis lief immer noch.
    Eine Stunde in der eisigen Kälte? Er spürte kaum mehr seine Finger. Ins Innere des Bahnhofs wagte er sich nicht. Nicht in seinem Zustand, und nicht mit den Kameras und den Nachtpatrouillen, die dort ihre Runden drehten. Er zwang sich weiter die Straße hinunter, bis zu einem umzäunten Sandplatz vor einer Industriehalle. Durch eine Lücke im Zaun schlüpfte er aufs Gelände und brach eines der parkenden Autos auf, einen alten Ford. Er ließ sich in den Fahrersitz sinken, schloss die Zündung kurz und lenkte den Wagen vom Hof. Nach zwanzig Minuten zielloser Fahrt über eisglatte Straßen parkte er im gleichen Wohngebiet, in dem er zuvor seinen Fluchtwagen abgestellt hatte, nur zwei Straßen entfernt. Aus den Lüftungsschlitzen drang warme Luft, die es ihm noch schwerer machte, die Augen offenzuhalten. Sein Bewusstsein wollte herabsinken in einen Tümpel aus Schwärze. Er schob den Fahrersitz
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