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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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Für Penny Allen
    wie wir in zwei Welten
weilten die Töchter und
die Mütter im Königreich der Söhne
    Adrienne Rich
    Reisen ist eine Brutalität. Es zwingt einen, Fremden zu vertrauen und all dem gewohnten Trost von Heim und Freunden zu entsagen. Man ist dauernd aus dem Lot. Nichts gehört einem, außer den wesentlichen Dingen - Luft, Schlaf, Träume, das Meer, der Himmel - lauter Dinge, die der Ewigkeit zuneigen oder dem, was wir uns darunter vorstellen.
    Cesare Pavese
Eins
    Jeden Nachmittag, wenn sich die ganze Stadt hinter den dunkelgrünen Fensterläden ihres Hotels zu regen begann, wurden Colin und Mary geweckt durch das systematische Bosseln von Stahlwerkzeugen gegen die eisernen Lastkähne, die am Ponton des Hotelcafés vertäut lagen. Morgens waren diese rostenden, narbenbedeckten Rümpfe ohne erkennbare Fracht oder Antriebsvorrichtung dann verschwunden; gegen Ende eines jeden Tages tauchten sie wieder auf, und die Besatzungen hantierten unerklärlich mit ihren Holzhämmern und Meißeln. Um diese Zeit, in der wolkigen Spätnachmittagshitze, begannen sich Gäste auf dem Ponton einzufinden, um an den Blechtischen Eis zu essen, und auch ihre Stimmen erfüllten das abgedunkelte Hotelzimmer, wogten auf und ab in Wellen von Gelächter und Unstimmigkeit und überfluteten die kurze Stille zwischen den einzelnen durchdringenden Hammerschlägen.
    Sie erwachten, so schien es ihnen, gleichzeitig und lagen ruhig auf ihren getrennten Betten. Aus Gründen, die sie nicht mehr klar definieren konnten, redeten Colin und Mary zur Zeit nicht miteinander. Zwei Fliegen umkreisten träge das Deckenlicht, auf dem Korridor drehte sich ein Schlüssel im Schloß, Schritte näherten sich und verklangen. Schließlich stand Colin auf, stieß die Fensterläden nach außen und ging ins Bad, um zu duschen. Noch verfangen in den Nachwehen ihrer Träume, drehte sich Mary auf die Seite, als er vorbeiging, und starrte die Wand an. Das stetige Wasserrauschen nebenan war besänftigend, und sie schloß noch einmal die Augen.
    Jeden Abend, in der rituellen Stunde, die sie auf ihrem Balkon verbrachten, bevor sie sich auf die Suche nach einem Restaurant machten, hatten sie geduldig den Träumen des anderen zugehört, im Austausch für den Genuß, ihre eigenen erzählen zu können. Colins Träume waren solche, wie Psychoanalytiker sie empfehlen, vom Fliegen, sagte er, von ausbröckelnden Zähnen, davon, nackt vor einem sitzenden Fremden zu erscheinen. Bei Mary verbündeten sich die harte Matratze, die ungewohnte Flitze und die kaum erforschte Stadt dazu, in ihrem Schlaf einen Tumult von lärmenden, streitsüchtigen Träumen zu entfesseln, die, beklagte sie sich, ihren Wachzustand betäubten: und die schönen alten Kirchen, die Altarbilder und die Steinbrücken über den Kanälen fielen matt auf ihre Netzhaut wie auf eine ferne Leinwand. Am häufigsten träumte sie von ihren Kindern: daß sie in Gefahr schwebten und daß sie selbst zu unbeholfen oder durcheinander war, um ihnen zu helfen. Ihre eigene Kindheit verwirrte sich mit der ihres Sohns und ihrer Tochter. Sie waren ihre Altersgenossen, die sie mit ihren beharrlichen Fragen ängstigten. Warum bist du ohne uns weggegangen? Wann kommst du wieder? Wirst du uns vom Zug abholen? Nein, nein, versuchte sie ihnen klarzumachen, ihr sollt doch mich abholen. Sie erzählte Colin, sie habe geträumt, ihre Kinder seien zu ihr ins Bett geklettert, auf jeder Seite eines, und da lagen sie und zankten sich die ganze Nacht über ihrem schlafenden Körper. Hab ich. Hast du nicht. Doch. Hast du nicht... bis sie erschöpft erwachte, die Hände fest an die Ohren gepreßt. Oder, sagte sie, ihr Exgatte bugsierte sie in eine Ecke und begann ihr geduldig, so wie er es einmal getan hatte, die Handhabung seiner kostspieligen japanischen Kamera zu erklären und sie dabei nach jedem Schritt die Raffinessen abzufragen. Nach vielen Stunden fing sie an zu seufzen und stöhnen und bat ihn, doch aufzuhören, aber nichts konnte die unbarmherzige Leier von Erklärungen unterbrechen.
    Das Badezimmerfenster ging auf einen Hof, und zu dieser Stunde belebte auch er sich mit Geräuschen aus angrenzenden Zimmern und den Hotelküchen. ln dem Moment, als Colin die Dusche abdrehte, begann der Mann von gegenüber, wie an den vorherigen Abenden, unter seiner Dusche sein Duett aus der Zauberflöte zu singen. Mit einer Stimme, die das wolkenbruchartige Wasserbrausen und das Schmatzen und Schlabbern verschwenderisch geseifter Haut übertönte,
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