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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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Funktionen, deutlich verschiedenen Verfahrensweisen und Hierarchien; schlichte Türen in Straßen, durch die sie schon viele Male gegangen war, führten nicht in Privatwohnungen, sondern in leere Wartezimmer mit Bahnhofsuhren und pausenlosen Tippgeräuschen und in überfüllte Büros mit braunen Linoleumböden. Sie wurde ins Verhör und Kreuzverhör genommen und fotografiert; sie diktierte Aussagen, Unterzeichnete Dokumente und starrte Bilder an. Sie trug einen versiegelten Umschlag von einer Behörde zur nächsten und wurde wieder ins Verhör genommen. Die müden jüngeren Männer in Blazern - Polizisten vielleicht oder Zivilbeamte - behandelten sie ebenso mit Höflichkeit wie ihre Vorgesetzten. Als ihr Familienstand einmal geklärt worden war sowie die Tatsache, daß sich ihre Kinder mehrere hundert Kilometer entfernt befanden, und vor allem, nachdem sie auf wiederholtes Fragen beharrlich geantwortet hatte, daß sie nie die Absicht gehabt habe, Colin zu heiraten, wurde sie mit Höflichkeit und Argwohn behandelt. Sie wurde für sie eindeutiger zu einer Informationsquelle als zu einem Gegenstand ihrer Anteilnahme.
    Doch an Mitleid wäre sie zerbrochen. So aber verlängerte sich ihr Schockzustand, ihre Gefühle waren ihr einfach nicht zugänglich. Sie tat ohne Klagen genau, was man ihr sagte, und beantwortete jede Frage. Ihre mangelnde Gemütsbewegung bestärkte den Argwohn. Im Büro des Unterkommissars beglückwünschte man sie zu der Präzision und logischen Folgerichtigkeit ihrer Aussage, zur Vermeidung entstellender Emotionen. Der Beamte meinte kühl: »In keinster Weise die Aussage einer Frau«, und hinter ihr wurde leise gekichert. Wenn sie auch eindeutig nicht daran glaubten, daß sie irgendein Verbrechen begangen hatte, behandelte man sie doch so, als sei sie angesteckt von - wie es der Unterkommissar selbst genannt und ihr übersetzt hatte - »diesen obszönen Exzessen«. Hinter ihren Fragen lag die Vermutung - oder existierte dies nur in ihrer Einbildung-, daß sie zu der Sorte Leute gehörte, deren Anwesenheit bei einem derartigen Verbrechen sie billigerweise erwarten durften, wie die eines Brandstifters bei den Flammen eines anderen.
    Gleichzeitig waren sie höflich genug, ihr das Verbrechen wiederum als bis zum Überdruß alltäglich und in eine sattsam bekannte Kategorie gehörend zu beschreiben. Speziell diese Behörde hatte in den vergangenen zehn Jahren mit mehreren solcher Verbrechen zu tun gehabt, die sich natürlich in den Details voneinander unterschieden. Ein dienstälterer Polizist in Uniform, der Mary eine Tasse Kaffee ins Wartezimmer brachte, setzte sich dicht neben sie und erklärte ihr einige Schlüsselmerkmale. Zum Beispiel das vom Täter öffentlich vorgeführte und eindeutig mit ihm in Verbindung gebrachte Opfer. Und dann der Widerspruch in den Vorbereitungen; einerseits sorgfältig - er zählte an fetten Fingern her: Foto, Beschaffung der Droge, Verkauf der Wohnungseinrichtung, im voraus gepackte Koffer; andrerseits, bewußt plump - er hakte wieder ab -, Zurücklassen des Rasiermessers, Flugbuchungen, Reisen mit echten Pässen.
    Die Liste des Polizeibeamten war länger, doch Mary hatte nicht weiter zugehört. Er schloß, indem er ihr aufs Knie patschte und sagte, daß für diese Leute das Gefaßt- und Bestraftwerden anscheinend genauso wichtig sei wie das Verbrechen an sich. Mary zuckte die Achseln. Die Worte »Opfer«, »Täter«, »das Verbrechen an sich« bedeuteten nichts, hatten überhaupt keine Entsprechung.
    Im Hotelzimmer legte sie die Kleider zusammen und packte sie in ihre jeweiligen Taschen. Weil er etwas mehr Platz hatte, stopfte sie ihre Schuhe und eine Leinenjacke zwischen Colins Sachen, genauso wie sie es für die Herreise gemacht hatte. Sie gab dem Zimmermädchen das lose Kleingeld und legte die Postkarten zwischen die letzten Seiten ihres Passes. Sie zerbröselte das restliche Marihuana und spülte es das Handwaschbecken hinunter. Abends telefonierte sie mit ihren Kindern. Sie waren freundlich, aber reserviert und baten sie mehrmals, sich zu wiederholen. An ihrem Ende konnte sie einen Fernseher hören, und bei sich selbst vernahm sie durch den Hörer ihre eigene Stimme, die um Zuneigung warb. Ihr Exgatte kam an den Apparat und sagte, daß er gerade ein Currygericht zubereite. Sie kam die Kinder am Donnerstagnachmittag abholen? Konnte sie das nicht etwas genauer sagen? Nach dem Telefongespräch saß sie lange Zeit auf ihrer Bettkante und las das Kleingedruckte in ihrem
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