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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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Physiotherapeut mehrere Stunden am Tag hier in der Wohnung. Aber wir konnten natürlich weder vergessen, was wir durchgemacht hatten, noch konnten wir aufhören, es zu wollen. Wir waren schließlich dieselben Menschen, und diese Vorstellung, ich meine diese Todesvorstellung, ließ uns nicht so einfach in Ruhe, nur weil wir das gern wollten. Wir redeten nicht darüber, es war unmöglich, darüber zu reden, doch es drückte sich auf verschiedene Art aus. Als der Physiotherapeut meinte, ich sei kräftig genug, ging ich alleine aus, bloß um durch die Straßen zu gehen und wieder ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Als ich nach Hause kam, stellte ich fest, daß ich die Treppen nicht hinaufgehen konnte. Wenn ich mein ganzes Gewicht auf ein Bein verlagerte und mich dann hochstemmte, durchzuckte mich ein entsetzlicher Schmerz, so wie ein Stromschlag. Ich wartete draußen im Hof darauf, daß Robert nach Haus kam. Als er kam, sagte er, es sei meine eigene Schuld, wenn ich ohne seine Erlaubnis die Wohnung verlasse. Er redete mit mir wie mit einem kleinen Kind. Er wollte mir nicht die Treppen hinaufhelfen, und er ließ auch keinen Nachbarn in meine Nähe. Sie werden es kaum glauben, aber ich mußte die ganze Nacht draußen bleiben. Ich setzte mich in einen Türeingang und versuchte zu schlafen, und die ganze Nacht glaubte ich, die Leute in ihren Schlafzimmern schnarchen zu hören. Morgens trug mich Robert die Treppe hoch, und wir hatten unseren ersten Geschlechtsverkehr seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus.
    Ich wurde buchstäblich zur Gefangenen. Ich konnte die Wohnung jederzeit verlassen, doch ich konnte nie sicher sein, wieder hineinzukommen, und schließlich gab ich auf. Robert bezahlt einen Nachbarn dafür, daß er für uns alle Einkäufe erledigt, und ich bin seit vier Jahren kaum draußen gewesen. Ich habe mich um die Erbstücke gekümmert, um Roberts kleines Museum. Robert ist von seinem Vater und Großvater geradezu besessen. Und ich habe diesen Garten hier draußen angelegt. Ich bin viel allein gewesen. Es war nicht so übel.« Caroline brach ab und blickte Mary durchdringend an. »Haben Sie verstanden, wovon ich geredet habe?« Mary nickte, und Carolines Blick milderte sich. »Gut. Es ist mir sehr wichtig, daß Sie genau verstehen, was ich gesagt habe.« Sie betastete die großen, blanken Blätter einer Topfpflanze auf der Balkonmauer. Sie riß ein abgestorbenes Blatt ab und ließ es hinunter in den Hof fallen. »Jetzt«, verkündete sie, beendete ihren Satz aber nicht.
    Die Sonne war hinter dem Dach in ihrem Rücken verschwunden. Mary fröstelte und erstickte ein Gähnen. »Ich habe Sie nicht gelangweilt«, sagte Caroline. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
    Mary sagte, sie sei nicht gelangweilt, und erklärte, daß das lange Schwimmen, das Schlafen in der Sonne und das schwere Essen im Restaurant sie schläfrig gemacht hätten. Weil Caroline sie immer noch gespannt und erwartungsvoll musterte, setzte sie dann noch hinzu: »Und jetzt? Wird Ihnen die Reise in Ihre Heimat helfen, unabhängiger zu werden?«
    Caroline schüttelte den Kopf. »Davon erzählen wir Ihnen, wenn Robert und Colin hier sind.« Sie ging daran, Mary eine Reihe von Fragen über Colin zu stellen, von denen sie einige früher schon gestellt hatte. Mochten ihn Marys Kinder? Widmete er sich ihnen besonders? Kannte Colin ihren Exgatten? Bei jeder knappen und höflichen Antwort Marys nickte Caroline, so als hake sie Posten auf einer Liste ab.
    Als sie völlig überraschend fragte, ob sie und Colin »merkwürdige Sachen« gemacht hätten, lächelte Mary sie gutaufgelegt an. »Bedaure. Wir sind stinkgewöhnliche Leute. Das werden Sie mir schon unbesehen glauben müssen.« Caroline verstummte, ihr Blick haftete am Boden. Mary beugte sich vor, um ihre Hand zu berühren. »Ich wollte nicht grob sein. Ich kenne Sie doch nicht so gut. Sie wollten etwas erzählen, also haben Sie es erzählt, und das war gut so. Ich habe es nicht aus Ihnen herausgepreßt.« Marys Hand ruhte mehrere Sekunden auf Carolines und drückte sie sanft.
    Caroline hatte die Augen geschlossen. Dann ergriff sie Marys Hand und stand so schnell auf, wie sie konnte. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte sie unter der Anstrengung des Aufstehens.
    Auch Mary erhob sich, teilweise um ihr aufzuhelfen. »Ist das nicht Colin da drüben«, sagte sie und deutete auf eine einsame Gestalt am Kai, die hinter den obersten Ästen eines Baumes eben noch zu erkennen war.
    Caroline schaute
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