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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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weich und unnütz, ihre Zunge ein unbewegliches Gewicht auf dem Grund ihres Munds.
    »Wir gehen fort«, sagte Caroline besänftigend. »Das Telefon ist abgestellt worden.«
    Colin war in einem Bogen zum Mittelfenster gegangen und stand jetzt mit dem Rücken vor Roberts Kredenz. »Dann gehen Sie eben und holen einen Arzt. Sie ist krank.«
    »Sie brauchen nicht zu schreien«, sagte Robert ruhig. Er und Caroline gingen immer noch auf Colin zu. Mary konnte sehen, wie sie sich an den Händen hielten, wie fest ihre Finger ineinander verschränkt waren und wie sich ihre Finger mit raschen, pulsierenden Bewegungen liebkosten.
    »Mary wird schon wieder«, sagte Caroline. »In ihrem Tee war etwas Besonderes, aber sie wird schon wieder werden.«
    »Im Tee?« wiederholte Colin dumpf. Als er ihrem Näherkommen auswich, stieß er gegen den Tisch und kippte die Champagnerfiasche um.
    »Was für eine Verschwendung«, sagte Robert, als Colin sich rasch umdrehte und sie wieder hinstellte. Robert und Caroline gingen um die Pfütze auf dem Boden herum, und Robert streckte den Arm nach Colin aus, so als wolle er zwischen Finger und Daumen sein Kinn greifen. Colin nahm den Kopf hoch und trat noch einen Schritt zurück. Gleich hinter ihm war das große, offene Fenster. Mary konnte sehen, wie sich der westliche Himmel auflockerte und wie sich hohe Wolkenspuren zu langen, feinen Fingern gruppierten, die dorthin zu weisen schienen, wo die Sonne untergehen mußte.
    Das Paar hatte sich nun getrennt und drang von zwei Seiten auf Colin ein. Er sah Mary direkt an, und sie konnte jetzt nicht mehr tun, als die Lippen öffnen. Caroline hatte Colin ihre Hand auf die Brust gelegt und streichelte ihn beim Reden. »Mary begreift schon. Ich habe ihr alles erklärt. Ich glaube, insgeheim begreifen Sie auch.« Sie fing an, ihm das T-Shirt aus den Jeans zu ziehen. Robert stützte seinen ausgestreckten Arm in Höhe von Colins Kopf gegen die Wand und pferchte ihn ein. Caroline hätschelte seinen Bauch und kniff mit den Fingern sacht in die Haut. Und obwohl Mary ins Licht schaute und die drei Gestalten am Fenster vor dem Himmel dahinter wie Silhouetten wirkten, sah sie mit absoluter Deutlichkeit die obszöne Präzision jeder einzelnen Bewegung, jeder Nuance einer geheimen Fantasie. Die Intensität ihrer Wahrnehmung hatte ihr Sprach- und Bewegungsvermögen ausgelaugt. Roberts freie Hand erforschte Colins Gesicht, stocherte ihm mit den Fingern die Lippen auf, fuhr den Umrissen von Nase und Kiefer nach. Eine volle Minute lang stand er still und widerstandslos, gelähmt durch schieres Nichtbegreifen. Nur sein Gesichtsausdruck durchlief Erstaunen und Furcht, verkniff sich zu Verstörung und dem Bemühen, sich zu erinnern. Sein Blick blieb auf Mary geheftet.
    Der übliche Feierabendlärm stieg aus den überfüllten Straßen unten herauf - Stimmen, Küchenschwatz, Fernsehgeräte - und verstärkte eher noch die Stille in der Galerie, als sie zu füllen. Colins Körper verkrampfte sich. Mary konnte das Zittern in seinen Beinen sehen, die Anspannung über dem Magen. Caroline machte ein beschwichtigendes Geräusch, und ihre Hand kam genau unter seinem Herzen zu liegen. In diesem Augenblick hechtete Colin los, die Arme wie ein Turmspringer vor sich haltend, hieb er mit dem Unterarm Carolines Gesicht weg und traf Robert an der Schulter, ein Stoß, von dem er einen Schritt zurückprallte. Durch die Lücke zwischen ihnen kam Colin mit noch immer ausgestreckten Armen auf Mary zu, so als könne er sie aufgabeln und mit ihr in Sicherheit fliegen. Robert hatte sich rasch genug gefangen, um vorzuschnellen, Colin am Knöchel zu packen und wenige Schritte vor Marys Stuhl zu Fall zu bringen. Er rappelte sich schon wieder auf, da hob Robert ihn an einem Arm und einem Bein hoch und trug und zerrte ihn dorthin zurück, wo Caroline stand und sich das Gesicht hielt. Dort stellte er Colin auf die Füße, schleuderte ihn hart an die Wand und hielt ihn dort, die mächtige Hand fest um Colins Kehle gelegt.
    Das Trio hatte sich jetzt wieder in den annähernd gleichen Positionen vor Mary versammelt. Die rauhen, heftigen Atemgeräusche legten sich allmählich, und erneut vernahm man die Geräusche der Nachbarschaft, die die Stille im Raum umrahmten.
    Schließlich sagte Robert ganz ruhig »Das war doch wohl völlig überflüssig, nicht wahr?« Er verstärkte seinen Griff. »Nicht wahr?« Colin nickte, und Robert nahm die Hand weg.
    »Da sehen Sie mal«, sagte Caroline, »Sie haben mir die Lippe
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