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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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Licht kam von einer Neonröhre, und an Lebensmitteln war nichts zu sehen. Aus einem Schrank unter dem Ausguß brachte Caroline einen Stahlrohrhocker zum Vorschein und gab ihn Mary zum Sitzen. Der Kocher stand auf einem abgewetzten Klapptisch und gehörte zu der Sorte, die man in Wohnwagen findet, zweiflammig, ohne Backofen und mit einem Stück Gummischlauch, der zu einer Gasflasche auf dem Fußboden führte. Caroline setzte Wasser auf und griff unter großer Mühe und schroffer Ablehnung eines Hilfsangebots in einen Schrank hoch, um eine Teekanne zu holen. Sie stand einen Moment still, eine Hand auf den Eisschrank, die andere auf ihre Hüfte gelegt, und schien auf das Abklingen eines Schmerzanfalls zu warten. Direkt hinter ihr war noch eine Tür, leicht angelehnt, durch die Mary die Ecke eines Betts sehen konnte.
    Als Caroline sich erholt hatte und aus einem Glas kleine getrocknete Blumen in die Teekanne löffelte, sagte Mary leichthin: »Was ist mit Ihrem Rücken los?«
    Noch einmal blitzte das prompte Lächeln auf, kaum mehr als ein Zähneblecken und ein rasches Vorschnellen der Kinnlade, ein Lächeln, so wie man es Spiegeln schenkt, und hier in diesem beengten, hellen Raum wirkte es noch befremdlicher. »Das habe ich jetzt schon lange«, sagte sie und hantierte mit Tassen und Untertellern. Sie begann Mary von ihren Reiseplänen zu erzählen; sie und Robert würden nach Kanada fliegen und dort drei Monate bei ihren Eltern bleiben. Wenn sie zurück seien, würden sie ein anderes Haus kaufen, eine Parterrewohnung, vielleicht, eines ohne Treppen jedenfalls. Sie hatte zwei Tassen eingeschenkt und schnitt eine Zitrone in Scheiben.
    Mary gab zu, daß die Reise spannend und der Plan vernünftig klänge. »Und Ihre Schmerzen?« sagte sie. »Ist es die Wirbelsäule oder die Hüfte? Waren Sie deswegen mal beim Arzt?« Caroline hatte Mary den Rücken zugedreht und tat die Zitronenscheiben in den Tee. Als ein Teelöffel klimperte, setzte Mary hinzu: »Für mich keinen Zucker.«
    Caroline wandte sich um und reichte ihr ihre Tasse. »Ich hab nur die Zitrone reingerührt«, sagte sie, »damit man sie auch schmeckt.« Sie trugen ihre Tassen aus der Küche. »Ich werde Ihnen von meinem Rücken erzählen«, sagte Caroline, als sie zum Balkon vorausging, »wenn Sie mir gesagt haben, wie gut Ihnen dieser Tee schmeckt. Orangenblüten.«
    Mary stellte ihre Tasse auf die Balkonmauer und holte von drinnen zwei Stühle. Sie saßen genauso wie früher, nur unbequemer und ohne einen Tisch zwischen sich, mit Aussicht auf das Meer und die nahe Insel. Weil diese Stühle höher waren, hatte Mary einen Blick auf jenen Teil des Kais, von dem aus sie und Colin Caroline entdeckt hatten, die jetzt ihre Tasse hob, so als wolle sie einen Toast ausbringen. Mary schluckte den Tee, und obwohl ihr seine Herbheit den Mund zusammenzog, sagte sie, er schmecke erfrischend. Sie tranken schweigend, Mary musterte Caroline stetig, erwartungsvoll, und Caroline blickte hin und wieder von ihrem Schoß auf, um Mary nervös zuzulächeln. Als beide Tassen leer waren, begann Caroline abrupt.
    »Robert sagte mir, daß er Ihnen von seiner Kindheit erzählt hat. Er übertreibt eine Menge und macht aus seiner Vergangenheit Geschichten, die er in der Bar erzählt, aber verquer war sie trotzdem. Ich hatte eine glückliche Kindheit und eine langweilige. Ich war ein Einzelkind, und mein Vater, der sehr nett war, liebte mich über alles, und ich gehorchte ihm aufs Wort. Ich stand meiner Mutter sehr nah, wir waren fast wie Schwestern, und wir strengten uns gemeinsam an, Dad zu umsorgen, ›dem Botschafter den Rücken stärken‹, nannte das meine Mutter immer. Ich war zwanzig, als ich Robert heiratete, und ich hatte keine Ahnung von Sex. Soweit ich mich erinnere, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt sexuelle Gefühle überhaupt nicht gekannt. Robert war ein bißchen herumgekommen, und nach einem schlechten Start bekam ich allmählich Spaß daran. Alles war bestens. Ich wollte schwanger werden. Robert wollte unbedingt Vater sein, unbedingt Söhne haben, aber es wurde nichts draus. Lange Zeit dachten die Ärzte, es läge an mir, doch schließlich stellte sich heraus, daß es an Robert lag, irgendwas mit seinem Sperma stimmte nicht. Das ist ein wunder Punkt von ihm. Die Arzte sagten, wir sollten es ruhig weiter versuchen. Aber dann begann etwas zu geschehen. Sie sind der erste Mensch, dem ich das erzähle. Ich weiß jetzt nicht einmal mehr, wann es zum ersten Mal passierte oder was wir
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