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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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sang der Mann mit der völligen Ungezwungenheit dessen, der sich ohne Publikum glaubt, kiekste und jodelte die hohen Töne, tra-la-la-te die vergessenen Worte und schmetterte die Orchesterpassagen. »Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Gottheit an.« Sowie die Dusche abgestellt war, verflachte der Gesang zu einem Pfeifen.
    Colin stand vor dem Spiegel, lauschte; dann begann er ohne besonderen Anlaß sich zum zweitenmal an diesem Tag zu rasieren. Sie hatten seit ihrer Ankunft ein wohlgeordnetes Ritual festgelegt, bestehend aus Schlaf, dem nur bei einer Gelegenheit Sex vorausgegangen war, und dem ruhigen, selbstverlorenen Zwischenspiel jetzt, während dem sie sich sorgfältig zurechtmachten vor ihrem Dinnerspaziergang durch die Stadt. In dieser Zeit der Vorbereitung bewegten sie sich langsam und sprachen kaum. Sie behandelten ihre Körper mit teurem, zollfreien Eau de Cologne und Puder, sie wählten ihre Garderobe mit peinlicher Sorgfalt und ohne den anderen um Rat zu fragen, so als warte irgendwo unter den Tausenden, zu denen sie sich bald gesellen würden, jemand, dem sehr viel an ihrer äußeren Erscheinung lag. Während Mary auf dem Schlafzimmerfußboden ihr Yoga machte, drehte Colin immer einen Marihuana-Joint, den sie dann auf ihrem Balkon rauchten, was jenen köstlichen Augenblick steigern würde, wenn sie aus der Hotelhalle in die cremige Abendluft traten.
    Während ihrer Abwesenheit, und nicht nur morgens, kam ein Zimmermädchen und machte die Betten oder zog die Laken ab, wenn es das für nötig hielt. An das Hotelleben nicht gewöhnt, hemmte sie diese Intimität mit einer Fremden, die sie nur selten sahen. Das Zimmermädchen entfernte benutzte Papiertaschentücher, es stellte ihre Schuhe im Schrank in einer anständigen Reihe auf, es legte ihre schmutzigen Kleider auf einem Stuhl zu einem ordentlichen Haufen zusammen und arrangierte loses Kleingeld in kleinen Stapeln längs des Nachtkästchens. Rasch jedoch wurden sie von ihr abhängig und fingen an, ihre Sachen achtlos zu behandeln. Sie wurden unfähig, sich umeinander zu kümmern, unfähig, in dieser Hitze ihre Kissen selbst aufzuschütteln oder sich nach einem fallengelassenen Handtuch zu bücken. Gleichzeitig waren sie gegen Unordnung intoleranter geworden. Eines Spätvormittags kamen sie in ihr Zimmer zurück und fanden es noch so vor, wie sie es hinterlassen hatten - schlicht unbewohnbar -, und es blieb ihnen nur übrig, wieder wegzugehen und abzuwarten, bis es aufgeräumt worden war.
    Die Stunden vor ihrem Nachmittagsschlaf waren ebenso festumrissen, wenn auch weniger voraussagbar. Es war Hochsommer, und die Stadt quoll über von Besuchern. Colin und Mary zogen jeden Morgen nach dem Frühstück mit Geld, Sonnenbrillen und Stadtplänen los und schlossen sich den Scharen an, die über die Kanalbrücken und durch jede enge Straße schwärmten. Sie erfüllten getreulich die vielen touristischen Pflichten, die die uralte Stadt auferlegte, und besuchten ihre Haupt- und Nebenkirchen, ihre Museen und Paläste, allesamt angefüllt mit Schätzen. In den Einkaufsstraßen blieben sie vor den Schaufensterauslagen stehen und erörterten Geschenke, die sie eventuell kaufen würden. Bislang hatten sie noch kein Geschäft betreten. Trotz der Stadtpläne verirrten sie sich häufig und konnten leicht eine Stunde damit zubringen, den gleichen Weg zurück und im Kreis zu laufen, den Sonnenstand (Colins Trick) zu Rate zu ziehen, um sich dann einer vertrauten Wegmarke aus einer unerwarteten Richtung zu nähern und immer noch irrezugehen. War die Strapaze besonders groß und die Hitze noch drückender als gewöhnlich, erinnerten sie einander sardonisch daran, daß sie »doch Ferien machten«. Sie verbrachten viele Stunden auf der Suche nach »idealen« Restaurants oder beim Versuch, das Restaurant von vor zwei Tagen wiederzufinden. Häufig waren die idealen Restaurants voll oder, nach neun Uhr abends, gerade dabei zu schließen; kamen sie an einem vorbei, das auf und Platz hatte, aßen sie dort, manchmal lange bevor sie hungrig waren.
    Allein vielleicht hätte jeder für sich die Stadt mit Vergnügen erkunden, Launen erliegen, Ziele aufgeben und so das Verirrtsein genießen oder ignorieren können. Es gab so viel zu bestaunen hier, man mußte nur auf Drahtsein und die Augen aufsperren. Doch sie kannten einander so gut wie sich selbst, und ihre Vertrautheit war, wie zuviele Koffer etwa, eine ständige Belastung; gemeinsam bewegten sie sich langsam, unbeholfen,
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