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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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einen großen, blaß beleuchteten Platz gebracht, eine Kopfsteinpflasterfläche, in deren Zentrum ein Kriegerdenkmal stand: massive, rohbehauene Granitblöcke, zusammengestellt zu einem Riesenwürfel, gekrönt von einem Soldaten, der sein Gewehr wegwarf. Dies war ihnen vertraut, dies war der Ausgangspunkt fast all ihrer Expeditionen. Bis auf einen Mann, der draußen vor einem Café Stühle ineinanderstapelte, beobachtet von einem Hund und, in einiger Entfernung, einem weiteren Mann, war der Platz menschenleer.
    Sie überquerten ihn diagonal und traten auf eine breitere Straße mit Geschäften, die Fernseher, Geschirrspüler und Möbel verkauften. Jeder Laden stellte deutlich seine Einbrecheralarmanlage zur Schau. Es war das gänzliche Fehlen von Verkehr in der Stadt, das den Besuchern die Freiheit gab, sich so leicht zu verirren. Ohne zu schauen, überquerten sie Straßen und stürzten impulsiv in kleinere Gassen, weil diese sich so verlockend ins Dunkel davonwanden, oder weil der Geruch von gebratenem Fisch sie anzog. Es gab keine Schilder. Ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, entschieden sich die Besucher für ihre Routen, so wie sie sich für eine Farbe entscheiden mochten, und gerade die Art, wie sie sich verirrten, war Ausdruck ihrer sich addierenden Entscheidungen, ihres Willens. Und wenn zwei zusammen Entscheidungen trafen? Colin starrte auf Marys Rücken. Die Straßenbeleuchtung hatte die Farbe aus ihrer Bluse gebleicht, und vor den alten, geschwärzten Mauern schimmerte sie, in Silber und Sepia, wie eine Geistererscheinung. Ihre feinen Schulterblätter, die sich mit ihrem verhaltenen Schritt hoben und senkten, kräuselten einen Faltenfächer über ihre Seidenbluse, und ihr Haar, das am Hinterkopf von einer Schmetterlingsspange zusammengefaßt wurde, schwang ihr über Schultern und Nacken.
    Sie blieb am Schaufenster eines Kaufhauses stehen, um ein ungeheures Bett zu betrachten. Colin kam auf gleiche Höhe mit ihr, zauderte einen Moment und ging dann weiter. Zwei Schaufensterpuppen, die eine im blaßblauen Seidenpyjama, die andere in einem schenkellangen Nachthemd mit rosa Spitzenbesatz, lagen zwischen den kunstvoll zerwühlten Laken. Die Dekoration war nicht ganz fertig. Die Puppen stammten vom gleichen Guß, beide kahl, beide wundersam lächelnd. Sie lagen auf dem Rücken, doch die Anordnung ihrer Gliedmaßen - jede hob mühsam eine Hand zur Kinnbacke- verriet, daß sie eigentlich auf der Seite ruhen sollten, zärtlich einander zugewandt. Es war jedoch das Kopfbrett, weswegen Mary angehalten hatte. Es war mit schwarzem Kunststoff gepolstert, erstreckte sich über die ganze Bettbreite und stand beiderseits noch dreißig Zentimeter über. Es sollte, zumindest auf der Pyjama-Seite, der Schalttafel eines Kraftwerks oder vielleicht eines Leichtflugzeugs ähneln. Eingebettet in die schimmernde Polsterung waren ein Telefon, eine Digitaluhr, Lichtschalter und Helligkeitsregler, ein Kassettenrekorder mit Radio, ein kleines Eisfach für Drinks und, zur Mitte hin, wie ungläubig gerundete Augen, zwei Voltmeter. Die von einem ovalen, rosiggetönten Spiegel beherrschte Nachthemd-Seite wirkte vergleichsweise karg. Es gab ein Einbauschminkfach, einen Illustriertenständer und eine Gegensprechanlage fürs Kinderzimmer. Auf dem Kühlschränkchen lehnte ein Scheck, auf dem das Datum des nächsten Monats geschrieben stand, der Name des Kaufhauses, eine riesige Summe und eine mit kühnem Zug hingesetzte Unterschrift. Mary bemerkte, daß die Puppe im Pyjama einen Füller hielt. Sie trat ein paar Schritte zur Seite, und ein Fehler im Spiegelglas ließ die Gestalten sich bewegen. Dann lagen sie still, Arme und Beine sinnlos erhoben, wie von Gift überraschte Insekten. Sie kehrte dem Tableau den Rücken. Colin war fünfzig Meter voraus auf der anderen Straßenseite. Mit hochgezogenen Schultern, die Hände tief in den Taschen, betrachtete er ein Teppichbodenmusterbuch, das methodisch seine Seiten umschlug. Sie holte ihn ein, und sie liefen schweigend weiter, bis sie am Ende der Straße an eine Gabelung kamen und stehenblieben.
    Colin sagte voller Mitgefühl: »Weißt du, ich hab mir dies Bett neulich auch angesehen.«
    Wo sich die Straße teilte, stand, was einmal eine imposante Residenz, ein Palast gewesen sein mußte. Unter den rostigen Balkonen im ersten Stock starrte eine Reihe steinerner Löwen hervor. Die hochgewölbten Fenster, flankiert von feingerillten, narbigen Pfeilern, waren mit Wellblech verbarrikadiert, das man sogar im
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