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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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Eins
    Er schreibt gerade, als sie ihn holen kommen.
    Er sitzt an seinem Metallschreibtisch, gebeugt über einen gelben Notizblock, spricht mit sich und mit ihr – wie immer mit ihr. Deshalb merkt er nicht, dass sie an der Tür stehen. Bis sie mit ihren Stöcken an den Gitterstäben rasseln.
    Er blickt auf und rückt seine große verkratzte Brille mit dem oft geklebten Steg zurecht. Zwei Wärter stehen nebeneinander da – der linke dick, teigig und blass, wie aus Schmalz gemacht, der rechte groß und schlank, mit einem pfenniggroßen Leberfleck auf der rechten Wange.
    Linker Wärter zieht seinen Hosenbund hoch. Auf die Füße, Sutton. Die Verwaltung will dich sprechen.
    Sutton steht auf.
    Rechter Wärter zeigt mit dem Schlagstock auf ihn. Was zum! Du heulst ja, Sutton.
    Nein, Sir.
    Lüg mich nicht an, Sutton. Ich seh, dass du geheult hast.
    Sutton fasst sich an die Wange. Seine Finger werden nass. Mir war nicht bewusst, dass ich heule, Sir.
    Rechter Wärter wedelt mit dem Schlagstock in Richtung Notizblock. Was ist das?
    Nichts, Sir.
    Er hat dich gefragt, was das ist, sagt Linker Wärter.
    Sutton merkt, wie sein schlimmes Bein nachgibt, und beißt vor Schmerz die Zähne zusammen. Mein Roman, Sir.
    Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren.
    Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an – zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
    Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
    Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?  
    Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir. Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon?
     
    Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter.
    Sie stöhnen alle.
    Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert.
    Es ist zu kalt, um hier
draußen
zu stehen, sagt der Reporter der
New York Post
. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum?
    Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von
Time
, darum.
    Der Reporter von
Look
hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
    Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der
New York Times
. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
    Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt
Clusterfuck
. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility? Das ist uncool, sagt der Reporter von der
Village Voice
. Sehr uncool.
    Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson
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