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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden
Autoren: Ian McEwan
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und versuchte sie mit einer scheuchenden Bewegung seiner freien Hand in die Bahn ihrer unbefangenen Existenz zurückzuweisen. Erst als die Trinkenden, lauter junge Männer, das Interesse verloren, hob der alte Mann die Kamera vors Gesicht und beugte wieder die wackeligen Beine. Aber jetzt war seine Frau ein paar Schritte zur Seite getreten und interessierte sich für etwas in ihrer Hand. Sie kehrte der Kamera den Rücken, um die letzten Sonnenstrahlen in ihre Handtasche zu locken. Ihr Gatte rief sie scharf an, und sie glitt flink wieder in Positur. Das Zuschnappen des Handtaschenbügels brachte Leben in die jungen Männer. Sie rückten sich in ihren Stühlen zurecht, hoben erneut die Gläser und setzten ein breites, unschuldiges Lächeln auf. Mit einem kleinen, gereizten Aufstöhnen zog der alte Mann seine Frau am Handgelenk weg, während die jungen Männer, die ihr Gehen kaum bemerkten, das Zuprosten und Lächeln wieder auf einander lenkten.
    Mary erschien an der Verandatür, sie hatte sich eine Strickjacke um die Schultern gehängt. Aufgeregt den Stand der Dinge zwischen ihnen mißachtend, machte sich Colin sofort daran, das kleine Drama auf der Straße unten nachzuerzählcn. Sie stand an der Balkonmauer und betrachtete den Sonnenuntergang, während er sprach. Sie wandte den Blick nicht, als er auf die jungen Männer an ihrem Tisch deutete, sondern nickte schwach. Colin vermochte die vagen Mißverständnisse nicht wiederzugeben, die seiner Ansicht nach den Hauptreiz der Geschichte ausmachten. Statt dessen hörte er sich ihre Erbärmlichkeit zu einer Kabarett-Nummer aufblasen, vielleicht in dem Bemühen, Marys ganze Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er beschrieb den älteren Herrn als »unglaublich alt und gebrechlich«, seine Frau war »unwahrscheinlich gaga«, die Männer an dem Tisch waren »blöde Hornochsen«, und den Ehemann ließ er »ein unglaubliches Wutgebrüll« ausstoßen. Das Wort »unglaublich« drängte sich ihm andauernd auf, vielleicht weil er befürchtete, daß ihm Mary nicht glaubte, oder weil er sich selbst nicht glaubte. Als er fertig war, machte Mary durch ein halbes Lächeln hindurch einmal kurz »Mm«.
    Sie standen etliche Schritt weit auseinander und starrten schweigend über das Wasser. Die große Kirche jenseits des breiten Kanals, die sie sich oft zu besuchen vorgenommen hatten, war jetzt eine Silhouette, und etwas näher schob ein Mann in einem kleinen Boot seinen Feldstecher in den Köcher zurück und kniete sich hin, um den Außenbordmotor wieder anzuwerfen. Links über ihnen flammte der grüne Neonschriftzug des Hotels mit einem abrupten, aggressiven Knattern auf, das zu einem leisen Summen herabsank. Mary erinnerte Colin daran, daß es spät wurde und sie bald losgehen sollten, bevor die Restaurants schlossen. Colin gab ihr recht, doch keiner von beiden rührte sich. Dann setzte sich Colin in einen der Strandstühle, und nicht lange danach setzte sich Mary auch. Noch ein kurzes Schweigen, und sie streckten die Hände nach einander aus. Ein kleiner Händedruck antwortete einem kleinen Händedruck. Sie rückten ihre Stühle dichter zusammen und flüsterten Entschuldigungen. Colin berührte Marys Brüste, sie wandte sich um und küßte zuerst seine Lippen und dann, auf eine liebevolle, mütterliche Art, seine Nase. Sie flüsterten und küßten sich, standen auf, um einander zu umarmen, und kehrten ins Schlafzimmer zurück, wo sie sich im Halbdunkel auszogen.
    Es war nicht mehr die große Leidenschaft. Ihre Annehmlichkeiten lagen in ihrer hastlosen Freundlichkeit, in der Vertrautheit ihrer Rituale und Prozeduren, im sicheren und präzisen Ineinanderspiel von Gliedern und Körpern, bequem, als werde ein Guß in seine Gießform zurückgelegt. Sie waren großzügig und bedächtig, stellten kaum Ansprüche und machten ganz wenig Lärm. Ihr Lieben war ohne klaren Anfang oder klares Ende, und häufig schloß es mit oder wurde unterbrochen von Schlaf. Sie hätten empört bestritten, daß sie sich langweilten. Sie sagten oft, es falle ihnen schwer, sich darauf zu besinnen, daß der andere ein eigenständiger Mensch sei. Wenn sie einander anschauten, schauten sie in einen beschlagenen Spiegel. Wenn sie über Sexualität und Macht sprachen, was sie manchmal taten, sprachen sie nicht von sich selbst. Es war genau dieses geheime Einvernehmen, das sie für einander verletzlich und empfindlich machte, leicht verwundbar durch die Wiederentdeckung, daß ihre Bedürfnisse und Interessen voneinander verschieden
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