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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition)
Autoren: Lily Brett
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Erstes Kapitel
    »Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz?« war eines der ersten Dinge, die Sonia Kaufman zu Ruth Rothwax sagte, als sie sich vor etwa zehn Jahren kennengelernt hatten. »Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz? Du solltest über die Wechseljahre reden. Die stehen vor der Tür.« Ruth hatte lachen müssen. Ruth und Sonia waren gleich alt. Vierundfünfzig. Sie waren beide in Australien aufgewachsen, sich aber erst in New York begegnet. Sonia war Anwältin für Urheberrecht in einer großen Anwaltskanzlei. Ihr Ehemann war Seniorpartner in derselben Kanzlei.
    Ruth hatte eine eigene Firma. Einen Briefservice. Sie hatte Kunden in New York, in Los Angeles, in Boston und in Washington. Als sie Rothwax Correspondence eröffnete, hatte man ihr erklärt, das würde nie und nimmer gutgehen. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Inzwischen hatte sie mehr Firmenkunden, als sie bedienen, und mehr Privatkunden, als sie sich wünschen konnte.
    Worte zusammenzufügen erfüllte Ruth mit tiefer Befriedigung. Ein Teil der Befriedigung rührte daher, daß man Worte kontrollieren konnte. Wenn man ihnen eine Reihenfolge verlieh, behielten sie diese Reihenfolge bei. Sie machten keine unerwarteten Ausfälle. Sie verwandelten sich nicht plötzlich in Fremde oder nahmen Tangostunden.
    Sonia verbrachte ihre Tage damit, herauszufinden, wem welche Ideen, Farben, Bezeichnungen, Gedanken und Worte gehörten. Ruth dachte sich, daß Sonia ruhig etwas mehr auf ihre eigenen Gedanken und Worte achten könnte.
    »Probier meine Lammwurst mit Fenchel«, sagte Sonia. »Schmeckt köstlich.« Ruth und Sonia frühstückten im Coco’s an der 12th Street.
    Lammwurst mit Fenchel? Wie konnte Sonia nur Lammwurst mit Fenchel zum Frühstück essen, dachte Ruth.
    »Nein, danke«, sagte sie.
    »Warum ißt du nicht vernünftig?« sagte Sonia. »Du hast fünf Getreidekörner und sechs Obststückchen auf deinem Teller. Iß Eier mit Schinken oder den Steak-Kartoffel-Auflauf.«
    »Du redest wie mein Vater«, antwortete Ruth.
    »Dein Vater ist völlig in Ordnung«, sagte Sonia.
    »Anderer Leute Väter sind immer in Ordnung«, sagte Ruth. »Außerdem kann ich kein rotes Fleisch essen. Es erinnert mich an brennendes Fleisch.«
    »Werd endlich erwachsen!« Sonia wurde beinahe laut. »Deine Eltern waren in Auschwitz, na und? Meine Mutter war in Theresienstadt, und ich kann gebackenes Hirn essen, geschmorte Nieren, gehackte Leber und alle möglichen Beine, Köpfe, Hälse und Füße. Du kannst nicht so auf den Holocaust fixiert bleiben.«
    »Ich bin überhaupt nicht auf den Holocaust fixiert«, sagte Ruth.
    Immerhin, dachte sich Ruth, war Sonia eine der wenigen Frauen in New York, die keine wie auch immer geartete Eßstörung hatte. Fast keine der Frauen aus Ruths Bekanntschaft hatte eine unbeschwerte Haltung zum Essen, wenn auch das Ausmaß der Störungen unterschiedlich war. Männer waren anders. Männer gingen ins Restaurant. Bestellten, worauf sie Lust hatten. Und aßen es. Genau wie Sonia. Soniastudierte nicht stundenlang voller Furcht und Zögern die Speisekarte. Und jammerte nicht im Anschluß an eine Mahlzeit über das, was sie gegessen hatte. Sonia aß einfach.
    Ruth versuchte sich zu verteidigen. »Ich weiß eine Menge über Essen und Ernährung«, sagte sie. »Forschungsergebnisse belegen, daß der Genuß dunkler Schokolade das Risiko von Blutgerinnseln mindert und die Blutgefäße entspannt.«
    »Damit deine Blutgefäße sich entspannen könnten, bräuchte es intravenöse Valiumgaben«, antwortete Sonia. »Es ist nicht normal, so etwas über Schokolade zu wissen und auf den Holocaust fixiert zu sein.«
    Aber was war schon normal? Wetterkarten und -vorhersagen verwendeten gern das Wort »normal«. Sie maßen Normalität. Wetterkarten konnten einem die durchschnittliche tägliche Abweichung von der Norm des Monats oder Jahres angeben. Ruth wäre gern in der Lage gewesen, die durchschnittliche tägliche Abweichung von ihrer eigenen Norm zu messen.
    »Viele Dinge sind nicht normal«, sagte Ruth. »Viele Dinge, die normal sind, sollten es nicht sein. Wenn man abends die Nachrichten sieht, könnte man meinen, daß die Welt von Männern beherrscht ist. Und man hätte recht. Aber das ist nicht normal. In einer Nachricht nach der anderen gehen weiße Männer mittleren Alters über die Straße, stehen am Pult oder sitzen am Tisch. Sie halten Reden und Ansprachen. Sie dozieren. Sie attackieren. Sie loben. Sie erklären. Wo sind die Frauen?
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