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Fleisch und Blut

Fleisch und Blut

Titel: Fleisch und Blut
Autoren: Jonathan Kellerman
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    Traurige Wahrheit: Wäre sie nur eine Patientin gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich nicht an sie erinnert.
    All die Jahre, die ich zugehört habe, so viele Gesichter. Damals hatte ich sie alle präsent. Das Vergessen kommt mit der Erfahrung. Es stört mich nicht mehr so sehr wie früher.
    Ihre Mutter rief meinen Telefonservice an einem Samstagmorgen kurz nach Neujahr an.
    »Eine Mrs. Jane Abbot«, erklärte die Frauenstimme. »Sie sagt, ihre Tochter sei eine ehemalige Patientin. Lauren Teague.«
    Der Name Jane Abbot sagte mir nichts, aber Lauren Teague entzündete eine unbehagliche Nostalgie. Es war eine 818er Vorwahl, irgendwo im Valley. Als ich mit der Familie zu tun hatte, hatte sie in West L. A. gewohnt. Ich sah meine alten Unterlagen durch, bevor ich zurückrief.
    Teague, Lauren Lee. Aufnahmedatum vor zehn Jahren, gegen Ende meiner Tätigkeit am Wilshire Boulevard. Kurze Zeit später verkaufte ich mit Gewinn einige Immobilien, versuchte auszusteigen, lernte eine schöne Frau kennen, freundete mich mit einem traurigen, sehr klugen Detective an und erfuhr mehr über schlimme Dinge, als ich darüber erfahren wollte. Seit dieser Zeit hatte ich das mit einer langfristigen Therapie verbundene Engagement vermieden, hatte mich auf Beratungen für die Gerichte und forensische Arbeit beschränkt, die Art von Rätseln, die mich aus den vier Wänden meines Büros herausholten.
    Zum Zeitpunkt der Überweisung war Lauren fünfzehn gewesen. Dünne Akte: ein Treffen mit den Eltern zur Besprechung der Vorgeschichte, gefolgt von zwei Sitzungen mit dem Mädchen. Dann ein versäumter Termin, keine Erklärung. Am nächsten Tag hinterließ der Vater eine Nachricht, mit der er die weitere Therapie stornierte. Das Honorar für die letzte Sitzung stand noch aus; ich hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, es einzutreiben, und es dann abgeschrieben.
    Wenn ehemalige Patienten sich wieder melden, tun sie es für gewöhnlich, weil es ihnen großartig geht und sie angeben wollen oder weil genau das Gegenteil der Fall ist. So oder so, normalerweise sind es Leute, zu denen ich ein gutes Verhältnis habe. Auf Lauren Teague traf das nicht zu. Ganz und gar nicht. Wenn überhaupt, wäre ich der letzte Mensch, den sie würde sehen wollen. Warum nahm ihre Mutter gerade jetzt mit mir Verbindung auf?
     
    Vorliegende Probleme: schlechte schul. Leist., zu Hause ungehorsam. Klin. Eindrücke: Vat. wütend; Mutt. mögt, depress. Spannungen zw. Mutt. und Vater - Ehekrise? Eltern einer Meinung bzgl: Laurens Benehmen als ursprg. Prob. Natürliche Geburt, einziges Kind, keine bes. gesundheitl. Probl., zur Bestätigung Kinderarzt anrufen. Schule: laut Mom: »Lauren war immer ein kluges Mädchen. « »Hat früher gern gelesen, jetzt hasst sie es. « Notenschnitt Zwei minus bis letzt. Jahr, dann »andere Einstellung«, neue Freunde - »Penner« (Vat.), Schwänzen, Dreien und Vieren. Grundstimmung ist »mürrisch«. »Keine Verständig. « Eltern versuchen zu reden, keine Reakt. Vermuten, dass Drogen im Spiel.
    Während ich die Akte durchblätterte, wurden die Gesichter von Jane und Lyle Teague halbwegs scharf. Sie dünn, blond, nervös, eine ehemalige Stewardess, jetzt eine »Ganztags-Mutter«. Starke Raucherin - fünfundvierzig Minuten ohne Tabak waren eine Qual für sie gewesen.
    Laurens Vater hatte Schlitzaugen, ein ausdrucksloses Gesicht, ließ sich ungern ins Gespräch ziehen. Seine Frau hatte schnell geredet... nervöse Hände, feuchte Augen. Als sie ihn um Unterstützung heischend ansah, hatte er sich abgewandt.
    Sie waren beide neununddreißig, aber er sah älter aus ... Er hatte irgendwas im Baugewerbe gemacht ... hier stand es, Elekt.-Untern. Ein kräftig aussehender Mann, kämpfte gegen das Herannahen der mittleren Jahre, indem er die Haare bis auf die Schultern fallen ließ und mit Haarspray bändigte. Kurz geschnittener schwarzer Bart. Muskeln betont durch ein zu enges Polo-Shirt und gebügelte Jeans. Grobes, aber symmetrisches Gesicht... Goldkette um einen roten Hals ... goldenes Armband mit dem Namenszug - wieso hatte ich mir das nur gemerkt? Wenn man ihn in eine Lederhose steckte, könnte er als Grizzlyjäger auftreten.
    Lyle Teague hatte mit weit gespreizten Beinen dagesessen, alle paar Minuten auf die Uhr gesehen, seinen Pieper gestreichelt, als hoffte er auf eine Unterbrechung. Unfähig, den Augenkontakt aufrechtzuerhalten - verfiel immer wieder in träumerisches Starren. Das brachte mich auf den Gedanken, dass er an
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