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Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe

Titel: Das flüsternde Haus: Eine Hommage an Edgar Allan Poe
Autoren: Christian Sidjani
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Das flüsternde Haus
    *****
     
    L'écrit d'une existence déchue.
    Adéma
     
     
    An einem erdrückend heißen Junitag begab ich mich in den mit Menschen vollen Waggon einer Schnellbahn, die mich von Hoheneichen nach Barmbek brachte, und noch vor meiner Ankunft erblickte ich durch ein Fenster das alte Warenhaus, dessen verwahrloste Fassade mich erschaudern ließ. Mag es der Schmutz gewesen sein, der jedem Regenschauer standgehalten hatte, oder seine erdüsterte Umgebung, die sich grotesk vom blauen Himmel absetzte, mir war unwohl und kein Haus in der Nähe vermochte jene vollkommene Tristesse zu brechen. Diese Seite des Bahnhofs war durch jahrelange Vernachlässigung in einen Zustand geraten, der nur durch das Wort desolat treffend beschrieben werden kann. Schon zu Zeiten, als das Geschäft florierte, Kunden auch aus benachbarten Stadtteilen vorbeischauten, um Haushaltswaren, Tonträger oder Kleidung zu erwerben, besaß das in seiner Symmetrie gebrochene Äußere des Warenhauses einen ausladenden Charakter. Seine drei Stockwerke waren nicht untereinander abgestimmt. Die oberen Plattformen verschoben sich ohne einem ersichtlichen, architektonischen Grund über die unterste Etage, sodass sich drei Meter ihres Bodens über den Eingang schoben und jedem Sonnenlicht stahlen, der sich näherte. Des Gebäudes Fenster waren sich genau so uneins im Erscheinungsbild, unten lang und breit, ganz oben schmal und kurz. Dazu bildete die Front der mittleren Etage mit ihren gitterartigen, weißen Latten vor dem Glas eine beängstigend eigene Wesenheit, die allen anderen Bestandteilen in ihrer Optik die Kraft raubte. Das war, was mich schaudern ließ und warum ich nach meiner Ankunft auf dem Bahnsteig verharrte, mich fragte, ob ich wieder umkehren sollte. Das Warenhaus atmete die Präsenz eines Gefängnisses, aus dem nicht zu entkommen war. Doch ich schalt mich einen Narren, denn hier hatte ich meine Kindheit verbracht, behütete und glückliche Jahre, und das Warenhaus war trotz allem ihr Zentrum gewesen. Dort hatte auch ich meine Waren erworben, ordentlich mit Taschengeld bezahlt, blieb Stunden in Abteilungen, versteckte mich und erlebte meine kindischen Abenteuer. Ich lachte in die von Schwüle feuchte Luft und neuen Mut fassend schritt ich die Treppen hinab, tiefer in den Bauch des Bahnhofs und noch tiefer hinaus zum alten Busbahnhof, der ungenutzt war wie das Warenhaus, das keine fünfzehn Schritte entfernt lag. Hier mochte ich vielleicht einen anderen Eindruck gewinnen, der die zutiefst deprimierende Atmosphäre wenn nicht tilgen so doch mildern konnte. Mit erneutem, noch stärkerem Schaudern stellte ich fest, dass dort nichts mehr war hinter einem Bauzaun, wo gepflasterte Haltestellen, eine Überdachung oder Fensterfassaden auf mich warten sollten. Nur eine öde, eine verwaiste Baustelle, als seien Arbeiter von ihr geflohen, was ich ihnen bei Gott nicht verdenken konnte. Als meine Gedanken die Menschen streiften, wurde ich auch gewahr, dass ich als Einziger hierher geschritten war, und ich fragte mich, wie lange sie schon diesen Ort mieden und ob es von einer instinktiven Abwehr herrührte. Niemand geriet schließlich freiwillig in die Nähe eines Gefängnisses.
    Trotz alledem sollte ich mich zu dieser Stunde hier einfinden und nirgendwo anders, hatte mir von meiner Arbeit freigenommen, denn mein alter Jugendfreund Dennis Roder, mit dem ich so manche Tage im Warenhaus verbracht hatte, schickte mir nur wenige Stunden zuvor eine Nachricht, die in ihrer Dringlichkeit und der den Worten innewohnenden Schwermut einer persönlichen Antwort bedurfte. Ich war ratlos, weshalb mein alter Freund mich in dieser Einöde empfangen wollte, wohnte er doch unweit davon entfernt – in einer geräumigen Wohnung, geräumiger als hier, dem dunkelsten Schandfleck bestimmt der ganzen Stadt – doch ich vermutete nur, wie er lebte, waren wir uns vor Jahren das letzte Mal begegnet, als er ein Zimmer im Haus seiner Eltern bewohnt hatte. Auch wenn wir uns seitdem über elektronischen Postverkehr austauschten, war Dennis mir im Grunde fremd. Selbst als wir Kinder waren, blieben mir seine Absichten und Gedanken zumeist verborgen. Nur seine abenteuerlichen Handlungen, ein Kaufhausdiebstahl mit anschließender Flucht als Beispiel genannt, ließen seinen Charakter für mich greifbarer werden – dies und der Hang zu Künsten, der ihm schon im Elternhaus begegnete, Malerei und Tonverarbeitung und eine nicht ungefährliche Nähe zu gedichteten Wortfantasien.
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