Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Nacht Jakob

Gute Nacht Jakob

Titel: Gute Nacht Jakob
Autoren: Hans G. Bentz
Vom Netzwerk:
DIE EICHEN

    Das Sonnenlicht über dem Gutshof begann die schräge Durchsichtigkeit des späten Nachmittags zu zeigen. Die Fassade des alten Schlosses wurde immer plastischer. Ihre vielen Winkel, Türme, Altane traten hervor. Ringsum hockten die Baumgerippe der vielhundertjährigen Eichen, die das Schloß berühmt gemacht hatten. Sogar einige tausendjährige, erzählte mir Korbinian, der Verwalter, waren darunter, und allerhand Professorenvolk ließ sich von Zeit zu Zeit auf dem Gut nieder, um zu messen, zu graben, zu fotografieren und vor allem, um zu kontrollieren, ob man nicht etwa einen der zentnerschweren und oft gefährlich baufälligen Zweige dieser Patriarchen meuchlings beseitigt habe.
    Was sie wohl einst in ihrer Jugend und Mannheit hier umstanden haben mochten, diese Wesen? Eine vorchristliche Thingstätte, mutmaßte er. Jetzt jedenfalls waren es nur noch Skelette. Die Stämme, von vier Männern nicht zu umfassen, waren hohl und voller Mulm. Hirschkäfer, Eichböcke, Hornissen und Eulen hausten darin. Dutzende von Metern weit nach allen Seiten klafternd die rindelosen, kahlen Arme. Und trotz all dieses Verfalls wirkten sie wie aus Eisen.
    Die Uralten um uns herum hatten unserem Gespräch die Richtung gegeben. Wir hatten überlegt, wie die Welt ausgesehen haben mochte, während in ihren Stämmen Jahresring um Jahresring wuchs. Und schließlich waren wir wieder bei unserer Gegenwart angelangt, wie sie dalag, im Zwielicht eines neu heraufziehenden Weltgewitters, wehrlos ausgeliefert den entfesselten Atomgewalten. Eine Zeit, magisch geladener vielleicht als alle zuvor.
    Danach schwiegen wir gänzlich, so daß das Summen der Bienen laut wurde. Korbinian saß vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien. Ich musterte ihn verstohlen von der Seite: ein früher Dreißiger mit scharfen Gramlinien in den flachen Wangen. Das übliche Schicksal: als halbes Kind noch in das furchtbare Räderwerk des Krieges gerissen, der ihm keinen seiner Schrecken ersparte. Dann — Gefangenschaft, Hunger, Heimkehr ins Nichts, neuer Start, Heirat, ein Töchterchen, bescheidener Wohlstand als Verwalter dieses Gutes, Belohnung zähen Nichtverzagens... Und das alles nun schon wieder im Schatten der Weltzerspaltung. Ich, der Fünfziger, hatte doch noch etwas von der wirklichen Welt gehabt, wie sie sich nur im Frieden zeigt — aber diese hier? Arme Hunde! Über den Kopf hätte ich ihm streichen mögen, aber meine Hand blieb gelähmt. Irgend etwas anderes, etwas ganz anderes wollte in mir herauf. Etwas, was ich lange, lange vergessen hatte.
    Da wurde ich mir eines Geräusches bewußt, eines Tscheckerns und Krächzens, das über das dunkle Wasser unserer Melancholie silberne Wellenringe zu werfen begann. Um die grüne Haube des alten Schloßturmes segelten und kreischten schwarze Vögel. Ihre Schwingen spreizten sich gegen den Himmel, als sie ihre Kreise zogen. Dann spaltete sich ein Trupp ab, flog in unsere Richtung und ließ sich auf der Tausendjährigen nieder, die unter ihrem Geschnatter, ihrem Hüpfen und Hämmern und Jagen zusammenschrumpfte und plötzlich nichts anderes war als ein alter, verfallener Baum, ein großer Delikateßladen für hungrige Schnäbel, ein herrlicher Spielplatz für koboldigen Übermut.
    Wir hoben beide den Kopf, und zum ersten Male ging wieder ein Lächeln zwischen uns hin und her.
    »Das sind ja gar keine Krähen«, sagte ich zu Korbinian, »das sind ja Dohlen!«
    Er blickte mich überrascht an: »Nanu, Sie kennen den Unterschied?«
    »Aber ja! Ich sehe die bleifarbenen Nacken. Dann sind sie auch kleiner — und dieses Geschwätz, dieser Radau — wie tausend Bengels bei Schulschluß! Unverkennbar!«
    Er klopfte an der Bank seine Pfeife aus: »Sie sind selten geworden. Stehen unter Naturschutz.«
    Jetzt schwang sich einer der schwarzen Kobolde ganz nahe zu uns auf einen Ast. Er beäugte uns flüchtig aus schief geneigtem Kopf und begann in das alte Holz zu hacken, daß die Splitter flogen. Dann fraß er etwas, ließ kurz darauf aus dem anderen Körperende etwas fallen und begleitete diesen Vorgang mit einem impertinenten Tschack-tschack — wenn es euch nicht paßt, könnt ihr ja weggehen! Und da fiel es mir ein — wie hatte ich es nur vergessen können, ein Menschenalter lang!
    »Jakob!« rief ich. »Jakob — Jaköbchen!«
    Die Dohle lauschte, hüpfte dann auf mich zu bis an das äußerste Ende des Astes.
    »Jakob!« rief ich wieder. Sie nahm es in sich auf und stieß dann einen undeutlichen Laut aus,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher