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Über den Missouri

Über den Missouri

Titel: Über den Missouri
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Der Gefangene
     
    Weihnachten und die Sonnenwende waren längst vorüber. Die Tage wurden schon länger als die Nächte, aber die Kälte, die erst spät mit voller Strenge eingesetzt hatte, wollte nicht weichen, und die Bewohner der rauhen Prärien erwarteten noch schwere Schneefälle.
    Die kleine Blockhausstation am Niobrara lag einsam und verlassen. Auf dem Turm hielt Pitt in Pelzkleidung Wache. Ohne viel Aufmerksamkeit schaute er über die hügelige, steppenartige Landschaft, über Sand und kurzes Gras, über den seichten Fluß und die von Frühjahrs- und Herbstwassern abgefressenen Ufer, hinein in den Wirbel von Schneekristallen und Sandwehen. Dabei fiel ihm der Tag ein, an dem er zum erstenmal zu dieser Vorpostenstation in der Prärie geritten war.
    Auch damals war es dem Kalender nach schon Frühling, auch damals hatte es aber noch gestürmt. Pitt sagte sich selbst, daß er in dem abgelaufenen Jahr sowohl auf Fort Randall am Missouri als auch auf diesem kleinen Fort am Niobrara wahrhaftig mehr Schlechtes als Gutes erlebt habe. Er wollte den Dienst so bald wie möglich aufgeben und hinüberreiten zu der Agentur der neuen Dakotareservation. Vielleicht gab es dort ein besseres Unterkommen für einen kleinen Mann. Red Fox, erfahrener Präriejäger und Gauner, hatte dem Stummelnasigen in dieser Richtung Hoffnung gemacht.
    Während Pitt den ereignislos und ungefährlich gewordenen Wachdienst versah, saß Capt’n Anthony Roach im Kommandantenzimmer und ging ebenfalls seinen Gedanken nach, die sich mit denen des kurznasigen Pitt in einigem trafen. Auch Roach wollte dem Niobrara so bald wie möglich den Rücken kehren; er hoffte auf die Versetzung in eine angenehme Garnison im Hinterland, nachdem er seine Pflichten im Indianerkrieg vorzüglich erfüllt zu haben glaubte.
    Anthony Roach trug, wie er das immer zu tun pflegte, eine tadellos sitzende, fleckenlose Uniform. Sein Gesicht war glatt, die Nägel waren gepflegt. Der Capt’n lehnte sich zurück und konnte dabei wieder feststellen, das der Armstuhl, den er sich hatte anfertigen lassen, genau zu seiner Figur paßte. In der Rechten hielt er ein aufgeschlagenes Notizbuch, mit der Linken nahm er die Zigarette vom Mund. Er beugte sich vor, um sie im Aschenbecher auszudrücken, und wandte seine Aufmerksamkeit ganz den Notizen zu. Ein Bleistift, nach dem er griff, erschien ihm zu stumpf, er legte ihn weg und suchte sich einen anderen, Marke Faber, aus.
    Als er eben neue Anmerkungen zu machen gedachte, rüttelte der Sturm an Palisaden und Holzbauten. Das Schiebefenster zitterte. Roach warf dem Fenster einen Blick strafender Überlegenheit zu und begann seine Gedanken mit Hilfe von Bleistift und Notizbuch systematisch zu ordnen.
     
    Jahr des Herrn 1877. April – der 21.
     
    Wir sind erfolgreich gewesen. Die feindlichen Dakota sind vollständig geschlagen, auf die Reservation getrieben. Roach strich, von seinen eigenen Gedanken geleitet, eine Position in seinem Notizbuch aus, mit geradem, genau abgemessenem Strich, und setzte den Bleistift neu an.
     
    Zweitens streichen wir Samuel Smith, den Major mit Ehre und Gewissen, der die roten Schweine noch gegen mich in Schutz nahm. Er ist gestorben, hat mir endgültig Platz gemacht. Das Verfahren gegen ihn erübrigt sich.
    Anthony zog den zweiten Strich, langsam, grausam, mit Genuß. Er war sich der Narbe in seiner rechten Hand bewußt, die von einem Pistolenschuß des verstorbenen Majors herrührte.
    Nun konnte eben diese Hand den Namen Samuel Smith ausstreichen. Wieder wurde die Bleistiftspitze angesetzt.
    Drittens streichen wir Cate Smith, die Tochter des Majors, ehemals meine Verlobte, ehemals Erbnichte der Mühlenbesitzerin und Witwe Betty Johnson, heute enterbt, entlobt, überhaupt völlig überflüssig. Wird mit dem nächsten Transport an den Missouri zurückgeschickt …
    Roach zog einen achtlosen, nicht ganz geraden Strich.
     
    Viertens …
    Anthony Roach wurde unterbrochen.
    Die Tür des Kommandantenzimmers, die in den Hof führte, war aufgerissen worden. Der Sturm heulte herein, wirbelte die Zigarettenasche aus dem Becher und fuhr in die mit Pomade gelegte Frisur des Captains.
    Ein großer Mensch, ganz in Leder gekleidet, betrat den Raum und zog die Tür, der Gewalt des Sturmes entgegen, wieder zu. Mit hörbaren Schritten kam er zu dem Schreibtisch heran. Ohne überhaupt zu grüßen, warf er die Kuriertasche auf die Tischplatte vor Roach hin. Dann ließ er sich auf die Wandbank fallen. Er streckte die Beine aus
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