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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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mein Gott, Paris ... Diese verbrauchte Schönheit. Dieser Glanz von gestern. Nicht einen Menschen hatte sie kennen gelernt in dem Jahr, von irgendwelchen Juristen oder Geschäftsleuten abgesehen. Nicht ein einziges Mal war sie eingeladen worden von den französischen Kollegen, die junge, zunächst wohl etwas hilflose Deutsche; mit kaum einem hatte sie gesprochen außerhalb der Bürozeiten, zumindest mit keinem, der sie neugierig gemacht hätte. Und die Männer, die sich beim Feierabendbier an der Theke des »Select« neben sie gestellt hatten, waren in ihren Absichten so unverhohlen gewesen, dass sie es kaum glauben mochte. Manger et coucher, so einfach konnte das Leben sein, so zum Schreien.
    Sie winkte Pierre, bestellte sich einen »Martell« zu dem Kaffee und warf bei der Gelegenheit einen genaueren Blick auf den Hut jenes Mannes, der außer ihr auf der Terrasse saß. Kein Zweifel, es waren Pilze, Waldpilze, wie auch ihr Vater sie oft gesammelt hatte, meistens am Schlachtensee. Sie konnte Ritterlinge, Schirnlinge und Rotkappen erkennen, und plötzlich roch sie das erdige Aroma und fragte sich, wie man hier, mitten in der Stadt, wo man die Metro unter den Füßen fühlte und die an- und abfahrenden Busse auf dem Boulevard du Montparnasse, Ecke Raspail, die mageren Straßenbäumchen erzittern ließen, an einen Hut voller Waldpilze kam.
    Sie tippte mit dem Löffel gegen ihre Schneidezähne und drehte sich etwas auf dem Stuhl, um den Mann näher zu betrachten. Knöchelhohe Stiefel trug er, gut zum Wandern, und vermutlich war er nur wenig größer als sie: ein Brillenträger mit kleinem Oberlippenbart, sehr edel gebogener Nase und einer ungewöhnlich hohen, etwas einschüchternden Stirn. Ein Mann, der dem zerfurchten Gesicht zufolge durch manchen Schmerz gegangen war in seinem Leben, viel gedacht und wohl auch gelesen hatte und an dem doch nichts von einem Intellektuellen war, im Gegenteil. Wind- und wettergegerbt sah er aus; in seinen halblangen Haaren, am Hinterkopf eine beeindruckende Menge und trotz des Alters nur vereinzelt grau, hing eine welke Kiefernnadel. Das Kinn hielt er stets ein wenig erhoben, die Hände ruhten gelassen auf den Armlehnen des Stuhls; groß, stark und doch sensibel, mit deutlich sichtbaren Monden auf den Nägeln, waren sie die eines Einfühlsamen, eines Liebhabers gar. Woher sie das wusste? Alle Pilzsammler haben zärtliche Hände.
    Der Ledersaum des Windfangs schleifte über den Boden. Pierre, im Vorübergehen, stellte den Cognac vor sie hin, trat an den Tisch des Mannes und fragte nach einer knappen Verbeugung, ob er noch etwas wünsche. Der schüttelte den Kopf, schob ihm das leere Weinglas und das Tellerchen mit den Münzen entgegen und stand auf, knöpfte sich die Jacke zu. Etwas klickerte in den Taschen, es klang nach Kieseln, und vorsichtig fasste er unter den Hut und hob ihn vom Stuhl.
    Wie wesentlich er aussah neben diesem Camembert, der sich vermutlich für Gottes größtes Geschenk an die Frauen hielt, wie uneitel und doch selbstgewiss, und dazu passte auch seine Stimme. Er sagte etwas über das Wetter, und so wie der Blick auf die Straße vorhin kein Beobachten, sondern ein Schauen gewesen war, ohne jede Anmaßung, kam diese Stimme ohne besonderen Nachdruck aus, war überraschend weich und scheinbar defensiv und dabei doch kraftvoller als die verklemmten Brusttöne des Kellners. Weil sie die Stille hinter sich wusste, dachte sie unwillkürlich, und zum ersten Mal in dem ganzen Jahr hatte sie das Gefühl, einen wirklich interessanten Mann zu sehen – umso mehr, als er von ihr und ihren Blicken immer noch nichts zu bemerken schien. Auch nicht, als sie sich räusperte.
    Mit deutlichem Sammlerstolz die Pilze betrachtend, schritt er durch das Lokal. Eine der Federn, die aus seinem Buch ragten, war von einem Eichelhäher, und sie nippte an dem Cognac und setzte sich etwas aufrechter hin. Ein offenbar teurer Nadelstreifenanzug – das Markenetikett hing noch am Ärmel –, ein verwaschenes T-Shirt und alte Wanderstiefel: irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor. Aber vielleicht irrte sie sich, vielleicht war das mehr Wunsch als Wahrheit, zumal sie in seinem Französisch einen Hauch von Akzent gehört hatte, österreichisch oder deutsch.
    Trotz der schweren Sohlen ging er leichtfüßig, und schon war er an ihrem Tisch vorüber und griff nach dem grünen Filz, da nahm sie allen Mut zusammen – mein Gott, es war ihr letzter Tag –, holte Atem und sagte: »Entschuldigung? Ich kenne
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