Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
Vom Netzwerk:
ich es ja.
    Ich spiele Gitarre in einer Jungsband, auch Bass, und wenn mal jemand »Bleeding« hören sollte auf YouTube oder »Religious Rats« – die Texte sind von mir. Ich wollte mir alles aufschreiben damals, jedes Detail, das ich bemerkenswert oder schön oder abstoßend fand, und besonders jede Empfindung. Alle um mich herum schienen immer genau zu wissen, was sie fühlten, aber mir war es selten wirklich so klar, dass ich es formulieren konnte. Also übte ich mich darin, und je mehr ich schrieb, desto undeutlicher wurde alles und kam mir am Ende nur schwülstig oder kitschig vor. Aber was half’s, sogar Shakespeare schien da Probleme gehabt zu haben; ich musste an die Stelle bei ihm denken, wo er von irgendeiner schönen Frau sagt, an ihr würde jede Beschreibung zum Bettler. Und das war vielleicht der Trick in der ganzen Literatur! Du kannst etwas nicht ausdrücken – aber das sagst du so umwerfend, dass es keine Rolle mehr spielt.
    Ich meine, ich hatte bis dahin schon Sex gehabt, wenn auch nicht besonders scharfen. Der Typ, ein schulbekannter Jungfrauen-Jäger, wie ich später hörte, brauchte wohl nur eine weitere Kerbe in seinem Kolben. Und dann habe ich Sven, unserem Keyboarder, mal einen geblasen. Das war im Suff gewesen, nach einem Flipper-Duell. Hätte ich gewonnen, wie fast immer, denn ich bin gut, wäre eine neue Mofalackierung für mich herausgesprungen. Aber ich hatte verloren, wenn auch nur knapp, und er spritzte schneller, als ich »Kleenex« denken konnte. Ich wurde den ganzen Abend den Geschmack nicht los: viel zu warmer, nikotinhaltiger Joghurt mit Birnenstückchen drin. Trotzdem stehe ich mehr auf Jungs, glaube ich.
    Draußen kam Wind auf, dieser Mistral, wie schon oft in den letzten Tagen. Der kann einem furchtbar auf die Nerven gehen. Manchmal hat man das Gefühl, das stete Wehen würde einem die Knöpfe von der Jacke schneiden. Die Friseuse blickte mit mir in den Spiegel, legte beide Hände an meine Schläfen und korrigierte die Kopfhaltung. Dabei lächelte sie mir zu. Meine Haare waren zwar noch feucht, aber man konnte schon sehen, wie sie liegen würden. Die Länge gefiel mir, und die Frau, die überall Sommersprossen hatte, nur an den Innenseiten ihrer Arme nicht, klappte ein Rasiermesser auf und stufte damit ein paar Strähnen ab. Das klang nach Gras, das gerupft wird, und ich schloss wieder die Augen und dachte an den letzten Abend am Fluss, an die Boote mit denFackeln am Heck und die Ziegen unter der halben Brücke.
    Den ganzen Tag hatten wir uns Theateraufführungen angesehen; zufällig waren wir in das Festival geraten, das jedes Jahr in Avignon stattfindet. An allen Ecken standen Musikanten, Pantomimen oder Feuerschlucker, und es gab Artisten, die nur aus schweißglänzenden Muskeln zu bestehen schienen und deren Gravitationspunkt irgendwo hinter den Sternen lag. Riesige Puppen mit klappernden Augenlidern tanzten umher, dressierte Hunde jaulten Verdi, und auf dem Platz vor dem Papstpalast wurden Molière-Komödien auf Bühnen aus Getränkekisten gespielt. Aus jeder Gasse schallte Applaus.
    Spätabends gingen wir in ein Bistro an der Rhône, und ich bestellte einen Salat mit Sardinen und eine Flasche Wasser, stilles Wasser. Ich war den Alkohol langsam leid. Dinah, die ihr orangefarbenes Top aus Nizza trug – auch das nur mit leichtem Handschweiß bezahlt –, nahm ein wenig Käse und einen halben Liter Châteauneuf du Pape, weil der zu ihrem Nagellack passe: ein Witz, den sie auch schon bei anderen Rotweinen gemacht hatte. Wobei sie wie immer erwartete, dass ich es nicht bemerkte und ihr mein beifälliges Lächeln schenkte.
    Doch als ich dieses Mal kaum reagierte, verfinsterte sich ihr Blick, und während sie trank und ich mir die zarten Wirbelsäulen der Sardinen zwischen den Zähnen hervorzog, starrten wir auf den Fluss, der so schwarz war, dass man sein Fließen nicht sah. Weiß der Teufel, woher die plötzliche Missstimmung kam; der Mond war noch lange nicht voll, und keine von uns hatte ihre Tage. Akkordeonklänge hallten unter den Brückenbogen wider. Ein Auto stand am Ufer, ein verbeulter Truck, und eine Frau in einer Kittelschürze molk im Licht der Scheinwerfer Ziegen.
    Dinah benutzte übrigens klaren Lack, immer schon. Sie war damals in der Parallelklasse gewesen, doch kennen gelernt hatten wir uns erst, als sie zu den Faxenmachern kam – so nannte man die Oberstufen-Truppe, in der gerade Shakespeare geprobt wurde, »Othello« in einer gekürzten Fassung. Ich war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher