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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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und stopften uns gegenseitig Kissen in den Rücken.
    Marlies’ Hinterkopf passte perfekt in meine Hand; die Haare, etwas stumpf von der weißblonden Farbe, knisterten leise, und ihr Parfüm war schon fast verflogen. »Wieso kommst du denn aus der Klinik?«, flüsterte ich. »Bist du krank?«
    Sie befühlte meinen Hals. »Ich? Nein, nein. Ich hoffe nicht.«
    Ihre Stimme klang jetzt dunkel vor Entspannung, und kaum hatte sie gegähnt, musste ich ebenfalls gähnen. Doch ich wollte auf keinen Fall, dass wir hier einpennten; gleich wurde aufgeräumt, und dann nichts wie weg. Die im Schlafzimmer gaben sich gerade den Rest, wie es schien; das Bettgestell schepperte, die Fransen unter dem Samthimmel tanzten, und Aischa fing an zu wimmern und zu schreien. Auch Lars ließ so ein wohliges Ächzen hören, und ich hoffte insgeheim, dass die Laken sauber blieben. Im Keller lagen zwar reichlich frische, aber die waren noch nicht gemangelt.
    Eine Weile lauschten wir reglos, und als sie fertig waren, betastete Marlies wieder meinen Hals, ganz vorsichtig. Dabei hielt sie die Augen geschlossen und sagte: »Deine Pickel fühlen sich an wie Blindenschrift.« Was ich nicht unbedingt witzig fand. Doch das schien sie gleich zu merken; rasch fuhr sie mir durch die Haare. »Wir haben auch Etikette für Sehbehinderte gemacht, weißt du. In dieser Firma in Stralsund. Na ja, aber hauptsächlich Tapeten. Einer hat sich mal das Bild seiner verstorbenen Mutter hinter das Sofa geklebt, von der Fußleiste bis zur Decke. Ich meine, die Frau war fast hundert, und auf der Vergrößerung sah sie wie eine Felswand aus, voller Moos und Flechten. Gruselig.«
    Draußen fuhr ein Auto vorbei, man hörte die Bässe in den Boxen, und wie sie sich entfernten. Jetzt gähnten wir gleichzeitig, und ich umarmte sie fester, damit sie nicht von der Couch fiel. Sie schob ein Knie zwischen meine Knie und schloss wieder die Augen, um die herum es viele kleine Punkte gab, bröckelnde Tusche, und dann – ich wollte sie gerade nach dem Lamm in ihrer Jacke fragen und ihr sagen, was für ein gutes Zeichen es war, dass Rufus schon sein Winterfell verlor – schlief sie wohl ein. Jedenfalls atmete sie regelmäßiger, der Mund öffnete sich etwas, und vorsichtig legte ich ihr eine Hand auf die Brust und verrieb die Asche dort mit dem Daumen.
    Auch in dem anderen Zimmer war es inzwischen ruhig; die beiden hatten die Lampe ausgeschaltet. Auf dem Bildschirm glomm ein Feuer, und draußen wirbelte es nur so, ein dichtes Gestöber. Man konnte den Strand, das Meer und die Schiffe nicht sehen. Alle Kiefern waren weiß.
    Morgen würde ich noch einmal räumen müssen, wie schon oft, und ich dachte an die unzähligen Schichten Schnee in diesem Winter. In jede hatten sich Wildspuren eingedrückt, auch vor meinem Fenster; wir wohnten am Forst. Dann wurden sie zugeschneit, und über die unberührte Lage liefen andere Tiere in andere Richtungen, und so weiter. Das Licht in den Hohlformen sieht manchmal bläulich aus, und nach jedem neuen Niederschlag glaubt man, diese Muster sind für immer dahin.
    Doch irgendwann taut es eben, und ich weiß noch, wie es mich als Kind überrascht hat, dass sie alle wieder zutage kommen, die Spuren, Schicht für Schicht, als hätte auch der Schnee ein Gedächtnis. Sogar in der letzten glasigen, kurz bevor das fahle Gras erscheint oder die eine oder andere Krokusspitze, erkennt man die Tritte von Hirschen, Vögeln oder Hasen, die vor Monaten dort gegangen waren und längst woanders leben. Oder vielleicht sogar tot sind.
    Ich wusste nicht genau, warum ich jetzt daran dachte, aber es lag wohl an Marlies’ Herz, dem Pochen unter meiner Hand. Weil sie so einen Doppelschlag hatte, fühlte sich das an, als wäre da noch ein Puls unter ihrem Puls, ein zarterer, und auch der schien ein leises Echo zu haben. Und dann schlief ich ein.
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