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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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Ihre Arbeit ist ja getan. Ich meine, am Ende wäre so eine Liste doch auch komplett, wenn sie nur einen Namen enthielte, oder? – Der letzte in dieser Reihe heißt übrigens Uhl. Einen Wagner kann ich nirgends entdecken ...«
    Der Kranke legte die Atemmaske zur Seite und streckte sich auf dem Sofa aus, schob die Füße unter das Plaid; dabei blickte er zur Zimmerdecke, wo es ein paar braune Wasserränder gab, und ich fand es erstaunlich, dass er sogar jetzt nicht versäumte, eine tadelnde Weile verstreichen zu lassen, ehe er mir antwortete. Wieder zupfte er an seiner Halshaut herum. »Dass Sie geschichtsvergessen sind, gehört ja wohl zu Ihrer Sozialisation«, sagte er. »Schwamm drüber. Aber dass in Ihrem Alter schon das Gedächtnis nachlässt ... Armes Deutschland. Habe ich Ihnen nicht erzählt, dass die Eltern noch gar nicht verheiratet waren am Tag des Unglücks? Radzuweit hieß mein Vater, Metzgergeselle, ermordet am 25. Juni. Schauen Sie nach!«
    Ich setzte mich auf den Bürostuhl, nahm die Lupe von einem Zeitungsstapel und suchte die Zeilen noch einmal ab. Dr. Wagner räusperte sich etwas aus der Kehle. »Er mochte Rosen, die seltenen Sorten, aber das sagte ich ja schon. Er hat Preise auf Ausstellungen gewonnen. Das Haus seiner Eltern steht sogar noch. Hillestraße, ganz hübsch. ›Energieoptimiert‹. Da wohnen jetzt Westler drin, mit ihren Computerkindern. Jüdisch, glaube ich. Jedenfalls nicht arm. Die ziehen dieses Öko-Gemüse und wollen eine Bürgerinitiative gegen den Flughafen gründen ... Haben Sie ihn?«
    Das billige Faxpapier klebte an meinen Fingern, doch die Wörter und Zahlen glitten wie etwas Flüssiges unter der Lupe dahin. »Ja«, sagte ich schließlich und tippte auf das letzte Blatt, auf den handschriftlichen Zusatz Weitere Opfer . »Das hatte ich übersehen. Hier steht’s. Emil Radzuweit, geboren am 4. Mai 1909, Metzgergeselle. Erschossen.«
    Er hustete, sein Kopf lief rot an, eine stumpfe Röte, die Schläfenadern schwollen, und er zog ein fleckiges Geschirrtuch zwischen den Kissen hervor und spuckte hinein. »Meine Mutter erzählte, er habe sich in den Weg gestellt, als jemand weggebracht werden sollte, ein linker Musiker. Er war couragiert und hatte ein gutes Herz«, sagte er heiser. »Aber die Feiglinge knallten ihn einfach ab. Drei Schüsse in die Brust. Und später haben sie bei euch Karriere gemacht.«
    Die Falten zwischen seinen Brauen wurden tief. Erneut drehte er an dem Ventil der Sauerstoffflasche und hielt sich die Maske vor den Mund. Sie beschlug und klärte sich im Rhythmus seines Atmens, und ich stand auf und schaute in den späten, über dem Waldsaum schon leicht violetten Himmel, durch den ein paar Kraniche zogen. Im Schatten der Parkbäume spielten junge Hunde. Windlichter flackerten in der Uferbar, auf der Spree wurde ein Segel eingeholt, am Bootssteg ein Dampfer vertäut. Der Kapitän rauchte tatsächlich noch Pfeife, und momentlang war es so still, dass man die Fahrradklingeln im Tunnel unter dem Wasser hörte. »Hier steht aber etwas anderes, Herr Wagner.«
    Als ich mich wieder ins Zimmer drehte, wirkte es dunkler, doch die Skleren des Mannes glänzten erstaunlich klar. Er hob den Kopf. Neben den Daten zur Person hatte man eine Notiz mitgefaxt, den Ausriss aus einer alten Zeitung; die Spalten waren noch in Fraktur gesetzt, und der Stempel darunter, kyrillische Schrift, trug die Jahreszahl 1946. »Emil Radzuweit, ursprünglich dem linken Spektrum zuzurechnen, besuchte öfter die Bildungsveranstaltungen der Kommunistischen Partei«, las ich und knipste die Schreibtischlampe an, schwenkte den Schirm über das dünne Papier. »Wegen wiederholter Schlägereien im Vereinslokal aus der Gewerkschaft ausgeschlossen, trat er jedoch im März 1933 der NSDAP und der SA als Mitglied bei. Angehöriger des berüchtigten Sturms Wendeschloss , in dem er sich durch außergewöhnlichen Wagemut hervortat, drang er am 25. Juni zusammen mit mehreren Kameraden in die Wohnung des Orchestermusikers Alfons Amthor ein, verletzte ihn schwer und wurde von dessen Bruder Jonathan in Gegenwehr erschossen. Mit einer Browning FN.«
    Dr. Wagner ließ die Maske sinken. Der Sauerstoff zischte ins Leere. In dem Zwielicht schien die Gesichtshaut mit dem ovalen Abdruck um Nase und Mund noch fahler zu sein, und die Wangenknochen zuckten. »Wie ich Ihnen erzählte, in der Breestpromenade. Sie können die Stelle von Ihrer Terrasse aus sehen«, sagte er, zog die Revers seines Morgenmantels unter dem Kinn
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