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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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zusammen und schloss die umschatteten Augen. »Neben der alten Gartenpforte. Wir haben oft Blumen dahin gelegt, Wiesenblumen. Wir waren ja arm.«
    Eine Luftblase wanderte langsam durch den vollen Urinschlauch und verschwand in dem Beutel in seiner Tasche, als er sich zur Wand drehte, und ich blickte eine Weile auf seinen Hinterkopf, die flachgelegenen weißen Haare. Das Rückgrat zeichnete sich durch den Frotteestoff ab, und seine nackten Sohlen, die unter dem Plaid hervorsahen, waren rissig und verhornt, die Füße eines alten Mannes eben, und kamen mir doch nicht größer als die eines Kindes vor. Mit dem Daumennagel kratzte er einen Span aus der vergilbten Fasertapete.
    »Er war ein stattlicher Bursche«, murmelte er. »Eine Zeitlang hatte ich noch ein Foto, aber dann hab ich’s verloren. Hab’s verschludert. Mutter schwärmte immer von seinen breiten Schultern. Na ja, er musste Schweinehälften und Rinderviertel schleppen, da kriegt man Kraft. Dass so einer dann Rosen züchtet, sagt doch einiges über den Charakter, oder? Die Rosen des Metzgers. Auch ein Grund, warum ich in diesem Staat geblieben bin und ihn nach Kräften mitgestaltet habe: Das empfindsame Potential von Arbeitern ist allemal größer als das von sogenannten Kulturmenschen. Die wissen was vom Leben. Die haben die tiefere Sehnsucht.« Er schüttelte den Kopf, schluckte trocken, zerrieb den Tapetenspan zwischen den Fingern. »Na ja, was soll’s, mein lieber Klassenfeind. Geschichte ...«
    Es wurde kühler. Die Sonne war nicht mehr zu sehen, aber die Schatten der alten Buddha-Figuren, die stilisierte Haarknoten oder vergoldete Spitzhauben trugen, ragten über die Wände bis hoch an den Stuck, und ich legte das Blatt auf den Schreibtisch und die Lupe auf das »Neue Deutschland« zurück und schloss das Gartenfenster, ehe ich an sein Bett trat. Er blickte sich über die Schulter um und lächelte müde, mit einem Mundwinkel nur. »Tippen Sie mir die Liste ab?«
    Der warme Uringeruch, der von ihm ausging, war eigentlich nicht unangenehm. Das Pflaster auf seiner Stirn hatte sich an einer Seite gelöst, und behutsam, mit der Daumenkuppe, drückte ich es fest. Aber es löste sich erneut, und er nickte mir zu und tastete wortlos nach meiner Hand. Zwei Eheringe steckten an seinem Finger.
    Und das war die Nacht, in der er starb. Die endlosen Güterzüge rauschten durch die Wälder, die Lichter der landenden und startenden Flugzeuge im weit entfernten Schönefeld spiegelten sich im See, die Kraniche schrien, und er starb, ohne dass ich etwas bemerkte. Dabei hatte ich kaum geschlafen, trotz aller Erschöpfung nicht, und immer wieder zu seinem Fenster geblickt, wo nach wie vor die Schreibtischlampe brannte.
    Am Ende war die Flasche Wein fast leer, und als mich das Handy weckte, lag ich in Kleidern auf der Couch. Es war die Frau von der Krankenpflege; sie hatte meine Visitenkarte neben dem Lenin entdeckt. Kurz darauf kam ein Arzt und stellte den Totenschein aus, und ich nahm mir den Morgen frei, um meiner Tante, die auf einem Campingstuhl im Garten saß und schweigend Vogelhirse zupfte, bei den Formalitäten zu helfen. Denn Dr. Wagner hatte keine Verwandten, und auch die Telefonnummern oder Adressen von Freunden waren nirgends zu finden.
    Doch als wir ein paar Tage später auf das Grabfeld an der Assmannstraße kamen, warteten drei Männer vor der Kapelle, ernste, in graue Windjacken gekleidete Greise mit einer seltsamen Aura aus Stolz und Traurigkeit, und Dirk stieß mich an. Die Oberhemden bis zum Hals geschlossen, grüßten sie stumm und hielten die Hände auf dem Rücken verschränkt, während wir uns zusammen mit dem Pfarrer bekreuzigten. Auch beim »Vater unser« bewegte keiner die Lippen. Mit erhobenem Kinn blickten sie über die Kränze und Gedenksteine in das Brachland jenseits des Gitters, wo Disteln zwischen den Fundamenten abgerissener Bauten wuchsen, und kaum war der Tote in die Erde gesenkt und der letzte Segen gesprochen, drehten sie sich um und verließen den Friedhof. Jeder auf einem anderen Weg.

Frischer Schnee
    L ars sprach sie an. Er hatte einen Job in Wismar und einen getunten BMW. Sie waren süß, beide, obwohl mir die Dunkle besser gefiel. Die lachte einem ins Gesicht, als würde man sich schon ewig kennen, ohne Angst vor Mundgeruch und so, ziemlich sexy. Sie kippte die Cocktails wie Zuckerwasser und schien dir immer in die Haare greifen zu wollen, knurrend vor Lebenslust. Aischa hieß sie, was wohl arabisch war, und ihre großen Augen
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