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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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Normalformat mauerte und Rohbauten wochenlang ruhen ließ, bevor man sie verputzte. Als man brennende Zeitungen in die frischen Kamine steckte, um zu sehen, ob sie zogen, und den Innenputz tagelang lüftete, ehe man Türen und Fenster einsetzte. Dachpfannen wurden leicht gegeneinander geschlagen vor dem Auslegen – nur tönende hielten lange –, Klinker mit Speckschwarten abgerieben nach dem Verfugen, und unter der Schwelle vergrub man Brot und Salz. Denn man baute für die Menschen, für ihr Leben, und nicht für den Investor.
    An so einem Abend, die Sonne sank, klingelte mein Handy. Die Nummer auf dem Display wurde unterdrückt, und nachdem ich es entriegelt hatte, war zunächst nur ein Rauschen und Gurgeln zu hören, und ich dachte an Lara, unsere Tochter, die Anglistik in Swansea studierte und mich manchmal aus einer Telefonzelle auf der Steilküste anrief, meistens high. Ich hatte schon ihren Namen auf den Lippen, aber dann sah ich Dr. Wagner im Morgenrock hinter einem der Fenster im ersten Stock und erschrak über seine Blässe, ihren grauen Ernst. Die Haare waren zerzaust, und er hielt sich eine transparente Atemmaske vors Gesicht und winkte mich hoch. Auf der Stirn klebte ein Pflaster.
    Meine Tante, die wie jeden Abend Choräle hörte, gab mir einen Teller mit Käsebroten und aufgefächerten Gewürzgurken für ihn mit. Seine Wohnungstür war nur angelehnt, auch das Fenster zum Garten stand offen, und er saß auf der Couch, eine Sauerstoffflasche neben sich in den Kissen. Die Brille lag vor den Buddha-Figuren. »Da!«, keuchte er und wies mit zitternder Hand auf den Schreibtisch. Ein rotes Signallicht blinkte am Faxgerät, und der Streifen Papier, der bis auf den Boden hing, bewegte sich leicht in der Abendbrise. »Das ist noch Solidarität! Man kann sich auf unsere Brüder verlassen. Die definitive Liste, wissen Sie. Alle Verletzten, alle Toten, bis hin zu meinem Vater. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich es noch schaffe. Jetzt soll Freund Hein von mir aus kommen.«
    Er lehnte sich zurück, der dunkelblaue Frotteemantel verrutschte, und in dem Moment, in dem ich den Schlauch zwischen seinen Knien sah, fiel mir auch der Geruch im Zimmer auf. Der Urinbeutel steckte in seiner Tasche, und obwohl Dr. Wagner meinen Blick bemerkte, ging er nicht darauf ein. »Das Problem ist nur die Schrift. Ich kann das Gekrakel einfach nicht mehr lesen«, sagte er und rang mit weit offenem Mund – der untere Teil der Prothese fehlte – nach Luft. Aber da schien keine mehr zu sein, und rasch hielt er sich die Maske vors Gesicht. Nun klang seine Stimme wie aus einem anderen Raum. »Sie wollten doch helfen, oder? Würden Sie mir das abtippen lassen?« Er drehte an dem Ventil der Sauerstoffflasche. »Es soll nicht Ihr Schaden sein.«
    Ich winkte ab, riss die Fahne aus dem Apparat und zerteilte sie vorsichtig in einzelne Seiten, ein halbes Dutzend. Die Originale waren auf dem Briefpapier eines »VEB Lößnitz, Produktionsstätte Schneeberg« getippt worden, mit einer mechanischen, das E versetzt anschlagenden Maschine, und das Farbband schien schon sehr blass gewesen zu sein. Die Aufstellung, mit Köpenicker Blutwoche überschrieben, war alphabetisch geordnet. Hinter jedem Namen stand außer dem Geburtsdatum, dem Familienstand und der Anzahl der Kinder auch die damalige Adresse, und meistens war unter dem Todestag im Juni ’33 die Art und Weise der Ermordung angeführt: »Erstochen. Erschossen. Im Tunnel unter der Spree zu Tode geprügelt. Hinter der Alten Försterei stranguliert. Im Müggelsee ertränkt.« Und bei denen, die jene Woche überlebt hatten, konnte man lesen: »Nach den Misshandlungen querschnittsgelähmt; starb 1968«, oder »aufgrund der Schläge erblindet; starb 1990«, oder »angesichts der Folterung und Verstümmlung des Vaters vor seinen Augen wahnsinnig geworden; starb in einer psychiatrischen Anstalt, 2002«. Hier und da fanden sich kurze Charakterisierungen wie »Gewerkschafter, seit 1930 im antifaschistischen Kampf« oder »Schreinermeister, Pazifist, Verfasser religiöser Traktate« oder schlicht »Sozialdemokrat« oder »Kommunist«.
    Es gab keinen Abstand zwischen den Zeilen, von denen das alte Faxgerät manche in ein helles Pixelgestöber übersetzt hatte, mit langen schwarzen Flecken dazwischen, und ich trat ans Fenster und hielt sie gegen das Licht. »Alles kann ich auch nicht entziffern, tut mir leid; man müsste die Originale haben«, sagte ich. »Aber Sie sollten sich jetzt schonen, mein Lieber,
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