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Nur 15 Sekunden

Nur 15 Sekunden

Titel: Nur 15 Sekunden
Autoren: Kate Pepper
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PROLOG
    Das Telefon klingelte kurz vor sechs.
    Ich war gerade mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beschäftigt. Zitronenhuhn sollte es geben, mit Klebreis und Salat.
    Mein Sohn Ben war zum Hausaufgabenmachen bei einem Freund. Durchs Küchenfenster sah ich die grünen Krokusspitzen, die schon aus dem spätwinterlichen Boden ragten. Am Nachmittag war es wieder windig geworden, und ich hatte Hugo, meinem Mann, auf die Mailbox gesprochen, um ihn zu bitten, nach der Arbeit einen kleinen Umweg zu machen und Ben abzuholen. So musste unser Sohn bei der Kälte nicht zu Fuß nach Hause kommen. Gierig nach Frühling war er am Morgen ohne Jacke zur Schule aufgebrochen, obwohl es noch recht frisch war. Martha’s Vineyard, die Insel mitten im Meer, ließ den Winter nur widerwillig ziehen.
    Ich war mir sicher, dass es Hugo sein musste, der zurückrief. Ich spürte es. Deshalb trocknete ich mir die Hände an einem Geschirrtuch ab – weiß und noppig, mit einem stolzen roten Hahn darauf – und ging ans Telefon.
    «Mrs.   Mayhew?»
    «Ja?»
    Ich rührte den Salat um. Griechische Oliven und Karottenscheiben, gemischt mit kleinen Stückchen mildem Kopfsalat, die vom Dressing ölig glänzten. Also doch nicht Hugo.Es war nicht das erste Mal, dass mich mein sechster Sinn trog. Ich nahm mir vor, es gleich nach diesem Telefonat noch einmal bei Hugo zu versuchen.
    «Mein Name ist Tuesday Miller. Ich bin Krankenschwester   … ich rufe aus dem Krankenhaus an.»
    Tuesday. Was für ein ungewöhnlicher Name. Und wie passend, wo doch gerade Dienstag war.
    Dienstag, kurz vor sechs. Das Abendessen war fast fertig, der Tisch noch nicht gedeckt. Ich war wieder einmal erst in letzter Sekunde vom Schreibtisch aufgesprungen, um früher mit dem Kochen anzufangen. Hugo hatte um acht einen Gerichtstermin in der Stadt, und wir verzichteten nur ungern auf die liebgewordene Gewohnheit des gemeinsamen Abendessens. Plötzlich störte mich dieser Anruf ungemein. Ich hatte keine Zeit für so was und hätte am liebsten gleich wieder aufgelegt. Gleichzeitig wusste ich, dass mein Ärger in keinem Verhältnis zu seinem Anlass stand.
    Ich drehte die Herdplatte unter dem Reistopf kleiner und lehnte mich an die Arbeitsfläche.
    «Was kann ich denn für Sie tun?»
    «Ich habe leider sehr schlechte Nachrichten für Sie.»
    Da war dieser Moment, ein plötzlicher Spalt in der Zeit, ein Meer aus Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, zwischen mir und dieser Tuesday, die einfach anrief, obwohl ich doch zu tun hatte, beschäftigt war. Ich hatte weder die Zeit noch die Geduld für diese Frau, sie störte.
    «Ihr Mann heißt doch Hugo Mayhew.»
    Keine Frage. Eine Feststellung. Eine Einleitung? Eine Warnung   …
    «Ja.»
    «Mrs.   Mayhew, es tut mir unglaublich leid, Ihnen das sagen zu müssen   … Ihr Mann hatte einen Unfall, auf der Middle Road. Und leider   …»
    Und dann   … ein plötzlicher Sturm auf dem Meer. Das Meer war mein Herz, meine Seele, mein Kopf, mein ganzes Leben. Die dunklen, kalten Tiefen des Ozeans durchdrangen mich, als ich in der Küche zu Boden sank und nichts mehr wahrnahm von den Düften eines Essens, das keiner verzehren würde.

ERSTER TEIL
    KAPITEL 1
    Er hatte hellbraune Augen mit dunkelbraunen Schlieren und grünlichen Sprenkeln darin. Die Augen erkannte ich sofort, noch bevor ich mich an die übrigen Einzelheiten des Gesichts erinnerte. Die grünen Sprenkel traten fast plastisch hervor, wie kleine, schwebende Granitsplitter. Sie machten seine Augen einprägsam, zusammen mit der rechten Pupille, die leicht schräg stand und unabhängig von der Beleuchtung immer etwas erweitert schien. Sobald einem das auffiel, wurde man das Gefühl nicht mehr los, dass er auch ansonsten ein schräger Typ war. Mir war es schon damals auf der Insel aufgefallen, wo er im Fachgeschäft für Bürobedarf die Kopien erledigte. Natürlich verbot ich mir den Gedanken gleich wieder, weil ich mir unfreundlich dabei vorkam. Er war schließlich nur ein junger Mann mit einem beeinträchtigten Auge, der einfache Arbeit verrichtete. Kein Grund, ihn gleich in eine Schublade zu stecken. Er war immer höflich und fleißig gewesen, wenn auch etwas übertrieben freundlich. Seinen Namen kannte ich nicht.
    All das fiel mir jetzt schlagartig wieder ein, als ich diese Augen sah, hier an meinem Schreibtisch in der Nachrichtenredaktion, wo der blaue Himmel hinter dem Fenster von einem der benachbarten Wolkenkratzer senkrecht entzweigeschnitten wurde. Es war der zweite
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