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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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Sie!«
    Überrascht blieb er stehen, blickte sich um. Auf den Gläsern der randlosen Brille gab es Fingerabdrücke, und angesichts seiner Augen, der Güte und der Helligkeit darin, obwohl sie dunkel waren, wusste sie momentlang nicht, wohin sie schauen sollte vor Scham, und rettete sich in ihr Lächeln. Das jedoch gleich wieder verblasste. »Aus einem Traum ...«, fügte sie gedämpfter hinzu und konnte es selbst kaum glauben; das Schlucken schmerzte im Hals.
    Was, zum Teufel, war in sie gefahren? War sie noch bei Trost? Hatte sie es wirklich so nötig? An die vielen einsamen Frauen in der Stunde des Aperitifs musste sie denken, traurige Gestalten, die keiner mehr nach ihrer Biografie fragte und denen man ansah, dass die einzige Zärtlichkeit des Tages die Berührung mit dem Puderpinsel war. Und welche Antwort, wenn überhaupt eine, würde sie einem Kerl geben, der sie derart angemeiert hätte? Zum Glück hatte sie deutsch gesprochen, so dass sie wenigstens nicht den Spott des Kellners fürchten musste, seinen eisblauen Blick. Ich kenne Sie aus einem Traum. Du lieber Himmel!
    Doch der Mann, der sie aufmerksam betrachtet hatte, schien nicht verärgert zu sein. Er lockerte die Pilze im Hut, zupfte einen Grashalm aus den Lamellen. »Ja!«, sagte er endlich und lächelte ernst. »Ich erinnere mich ...«
    Dann schloss er kurz die Augen, ein sanfter Gruß, schob den Vorhang mit dem Handrücken beiseite und ging hinaus. Die Scheibe, vibrierend von den Bussen, die gerade anfuhren, war staubig, sein Bild verschwamm, und ob er noch einmal gewinkt hatte am Straßenrand – sie konnte es durch ihre Tränen nicht sehen.

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    » I ch ließ meine Haare in Avignon ...« Vielleicht wird das mal ein Lied. Der Salon war voller Chrom, und der Lüster unter der Decke funkelte in der Morgensonne, während die Schere um meine Ohren zwitscherte. Immer mehr Strähnen fielen auf das Parkett mit dieser gespenstischen Lautlosigkeit, und Dinah wendete sich ab, als sie mein Lächeln im Spiegel bemerkte, trank etwas Kaffee. Der neue, von einer leisen Trauer unterlegte Ernst in ihren Augen machte sie deutlich älter, und ihr Gesicht war zum Erbarmen blass, wie oft nach dem Aufstehen. Doch an dem Morgen lag das sicher nicht nur an den Tabletten. Es lag auch an mir.
    Ich blickte auf die seltsam stumpfen, plötzlich gar nicht mehr so blonden Haare in meinem Schoß, ganze Hände voll, und wunderte mich, wie kühl sie sich anfühlten. Dabei hatte ich immer nur geschwitzt unter ihnen. Froh war ich, sie endlich loszuwerden, und dachte an die Videos, die wir in Grasse gemacht hatten, an die wild aufspringenden Lämmer nach der Schur. Und dann stellte ich mir den Blick meiner Eltern vor, und wie Papa entgeistert »Friederike!« sagen würde, »Fritzi-Kind, wie konntest du das tun?«
    Aber mein Gott, was sind Haare, dieses Gehirnstroh, und was machen die Menschen für ein Theater darum. Als Mama einmal geschäftlich nach Mexiko musste, war ihre einzige Sorge der Adapter für den Lockenstab gewesen. Sie konnte keinen kriegen und sah schon alle Verhandlungen gescheitert, weil die Außenrolle nicht richtig wippte. Sogar Dinah, eigentlich ein Freak, verbrachte mehr Zeit mit dem Föhn als mit den Büchern ihrer geliebten Virginia Woolf.
    Sie trug das dunkelgrüne Satinkleid und die Kette aus Holzkugeln, die sie in Toulouse geklaut hatte, und wenn sie an der Zigarette zog, sah das Gesicht mit den schwungvollen Lippen noch eleganter aus. Ihre stolze Schönheit hatte uns vieles erleichtert auf der Reise, ein prima Schutz. Keiner zog so drohend die Brauen zusammen, und wir waren kaum je belästigt worden.
    Die Friseuse massierte mir irgend etwas in die Kopfhaut, vermutlich eine Nährlotion für den Heiligenschein; es brannte ein wenig, nicht unangenehm, und ich schloss die Augen. – Keine Belästigungen, aber wir hatten auch niemanden kennen gelernt, oder bloß Frauen, die ebenfalls paarweise reisten und mit denen wir in Olivenhainen und Amphitheatern herumgestiegen sind und Wein getrunken haben, immer mehr Wein, bis das Gefummel anfing ...
    Das Windspiel an der Ladentür klingelte, ein silberner Laut, und als ich die Augen wieder öffnete, ging Dinah gerade über die Straße und verschwand in dem kleinen Hotel, in dem wir wohnten, »Reine des Violettes«. Am Bordstein warteten ein paar von diesen Touristenkutschen mit den armen welkenden Pferden davor, und immer noch fühlte ich mich miserabel, als wäre ich an allem schuld. Und vielleicht war
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