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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner
Autoren: Ralf Rothmann
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für die Desdemona ausgesucht worden und hatte arge Schwierigkeiten damit. Lieber hätte ich jemand anderen gespielt, das Schwein zum Beispiel, diesen Jago, den verstand ich nicht. Den hätte ich runtergelernt, und fertig. Aber Desdemonas Liebe war so rein, so edel, und weil ich im Gegensatz zu ihr wusste, wie das Stück ausging, und ihr das Schicksal am liebsten erspart hätte, legte ich die Rolle viel zu zaghaft an, wie auf dünnem Eis. Zwei Othellos waren schon an mir verzweifelt; die Kerle hatten einfach kein Rhythmusgefühl. Die kratzten sich wie Affen und dachten, meine Pausen wären Hänger. Dabei schaffte ich mir nur Raum. Ich wollte nicht in einem Schwank sterben.
    Der Part des schwarzen Generals war demnach frei, und als Dinah sich anbot, lachen fast alle. Doch Herr Lünstedt, unser Lehrer, hatte erst mal nichts dagegen. Irgendwo in Berlin lief gerade der »Hamlet«, und der wurde auch von einer Frau gespielt, und zwar ziemlich gut, wie man hörte. Aber ich gehe nicht ins Theater; in der gespannten Stille kriege ich immer Bauchgrimmen, weil ich so unregelmäßig esse. Das ist total laut, und dann schäme ich mich in Grund und Boden.
    Innerhalb weniger Tage lernte sie ihren Text und besorgte sich eine blaue Uniformjacke mit goldenen Schulterbürsten und einen viel zu langen Degen aus Blech. Er schleifte auf dem Boden und schepperte bei jedem Schritt. Ihre Hände, den Hals und das Gesicht schwärzten wir mit zerbröselter Zeichenkohle, und das sah schon ziemlich aufregend aus zu den dunklen Locken, besonders wenn sie lächelte. Wahrscheinlich hat man das im sechzehnten Jahrhundert nicht anders gemacht.
    Geprobt wurde nachmittags, in der Aula, und meistens musste ich danach in die Turnhalle zum Duschen, denn Dinah umarmte und befingerte mich wie ein Mann, wie ein schwitzender dazu, oft sogar mit einer Fahne. Sie stampfte auf in ihren Cowboystiefeln und schrie und rollte mit den Augen, sie fletschte ihre herrlichen Zähne und zerrte mich an den Haaren über die Bretter. Und einmal, als sie mir laut Regieanweisung eine Ohrfeige geben musste, schlug sie in ihrem Feuereifer so fest zu, dass mir die Tränen kamen. Dauernd vergaß ich meinen Text.
    Trotzdem machte es Spaß mit ihr. Ich freute mich plötzlich auf jede Probe und fühlte mich auch nicht mehr so verkatert hinterher, als hätte ich etwas im Grunde Albernes oder Peinliches getan. Shakespeare klingt ja so künstlich auf der Bühne, wo jedes Gefühl oder jeder Witz wie in Gips daherkommt. Er ist viel wahrer, viel erschütternder im Buch. – Vor den anschließenden Diskussionen verdrückte ich mich allerdings meistens. Man zitterte noch von den letzten Worten oder wischte sich den Angstschweiß aus dem Nacken, und auf einmal ging es um zentrale Motive, Schrittfolgen oder Beleuchtungsfragen, furchtbar. Alle quasselten durcheinander, und dann sehnte ich mich immer nach meiner Gitarre, nach einem einzigen klaren Ton.
    So war es auch an dem Tag vor der Premiere. Ich hielt den Kopf unter die Dusche, die Haare voller Zeichenkohle, und sah zu, wie das schmutzig graue Wasser über meinen Körper lief und im Abfluss verschwand. Und während ich mir die Hände zwischen die Schenkel schob und durch die Finger pisste, rezitierte ich meinen letzten Vers, dieses unglaubliche »Töte mich morgen, lass mich heut noch leben«. Ich gurgelte ihn sogar, in Dur. Das ganze Stück steckt in dem Satz, auch wenn unser Lehrer das anders sah. Der schrieb Artikel für Wikipedia, und meine Probeklausur war schon mal ein Schuss in den Ofen gewesen.
    Ich freute mich wahnsinnig auf die Wochen nach dem Abi. Dinahs Mutter, eine Galeristin, wollte ihr ein Cabrio schenken. Es stand bereits in der Garage, und wir hatten vor, ein bisschen durch die Vogesen zu kurven, dann ein paar Tage irgendwo zu baden und schließlich Städte abzuklappern: Cannes, Orange, Aix-en-Provence, alles, was gut klang. Aber in erster Linie wollten wir uns von dem Prüfungsstress erholen und schlafen und essen und albern sein. Wir würden hemmungslos Koryphäe mit Konifere verwechseln und abfeiern bis in die Puppen.
    Als ich in den Umkleideraum kam, saß sie auf der Bank und steckte sich eine ihrer Selbstgedrehten an. Auch sie hätte eine Dusche nötig gehabt, ging aber meistens schmutzig nach Hause. Der Degen hing am Türgriff und pendelte hin und her, die Jacke stand offen, und sie kratzte sich das Knie, das aus ihrer zerrissenen Jeans hervorsah. »Na, General, was nagst du so die Unterlippe?«, fragte ich und
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