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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Ortschaften wurden spärlicher, ich überlegte, ob wegen der späten Stunde oder weil das Land verlassener war. Zuerst freute ich mich über das Radio in meinem Auto. Aber ich bekam nur einen Sender klar, und nachdem ich zum drittenmal das Lied vom Angel, der durch den Room geht, gehört hatte, stellte ich ab. Manchmal wechselte der Belag der Autobahn, und die Reifen sangen ein neues Lied. Um drei, kurz hinter Rennes, wäre ich fast eingeschlafen, jedenfalls halluzinierte ich Menschen, die vor mir über die Autobahn rannten. Ich machte das Fenster auf, fuhr auf den nächsten Parkplatz, trank meine Thermosflasche leer und machte zehn Kniebeugen. Bei der Weiterfahrt dachte ich an Kortens Auftritt im Prozeß. Er hatte mit hohem Einsatz gespielt. Seine Aussage durfte Dohmke 341
    und Tyberg nicht retten, mußte aber so klingen, als wolle sie eben das, und durfte ihn dabei selbst nicht ernsthaft gefährden. Södelknecht hätte ihn fast verhaf-ten lassen. Wie hatte Korten sich dabei gefühlt? Sicher und überlegen, weil er allen etwas vorzumachen verstand? Nein, unter Gewissensbissen wird er nicht gelitten haben. Von meinen ehemaligen Kollegen bei der Justiz kannte ich als Mittel der Vergangenheitsbe-wältigung beides: den Zynismus und das Gefühl, stets im Recht gewesen zu sein und nur die Pflicht getan zu haben. Ob auch für Korten die Tyberg-Affäre rückblik-kend dem größeren Ruhm der rcw gedient hatte?
    Als die Häuser von Carhaix-Plouguer hinter mir zu-rückblieben, sah ich im Rückspiegel den ersten Streifen Morgendämmerung. Noch siebzig Kilometer bis Trefeuntec. In Plonévez-Porzay hatten Bar und Bäckerei schon offen, und ich aß zwei Croissants zum Milchkaf-fee. Um Viertel vor acht stand ich an der Bucht von Trefeuntec. Ich war mit dem Wagen auf den von der Flut noch nassen und festen Strand gefahren. Unter grauem Himmel rollte das Meer grau an. An der Steilküste links und rechts der Bucht brach es sich mit schmutzigen Schaumkronen. Es war noch milder als in Paris, trotz des starken Westwinds, der die Wolken vor sich her trieb. Schreiende Möwen ließen sich von ihm hochtragen und stießen in steilem Sturz auf das Wasser.
    Ich machte mich auf die Suche nach Kortens Haus.
    Ich fuhr ein Stück ins Land zurück und kam auf einem Feldweg an die nördliche Steilküste. Mit ihren Buchten und vorgelagerten Klippen zog sie sich dahin, soweit 342
    ich sehen konnte. In der Ferne machte ich einen Umriß aus, der vom Wasserturm bis zum großen Windrad alles sein konnte. Ich stellte den Wagen hinter einem wind-zerzausten Schuppen ab und hielt auf den Turm zu.
    Noch ehe ich Korten sah, hatten mich seine beiden Dachshunde ausgemacht. Sie rannten mir von weitem entgegen und kläfften mich an. Dann tauchte er aus einer Senke auf. Wir waren nicht weit auseinander, aber zwischen uns lag eine Bucht, die wir umrundeten. Auf dem schmalen Pfad, der oben an der Steilküste entlang-führt, gingen wir aufeinander zu.
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    Alte Freunde wie du und ich
    »Du siehst schlecht aus, mein lieber Selb. Ein paar Tage Ruhe hier werden dir guttun. Ich hatte noch nicht mit dir gerechnet. Laß uns ein paar Schritte machen. Helga richtet das Frühstück auf neun. Sie wird sich über dich freuen.« Korten hakte sich unter und schickte sich an, mit mir weiterzugehen. Er hatte einen leichten Lodenmantel an und sah entspannt aus.
    »Ich weiß jetzt alles«, sagte ich und trat zurück. Korten sah mich prüfend an. Er verstand sofort.
    »Das ist nicht einfach für dich, Gerd. Es war auch für mich nicht einfach, und ich war froh, niemanden damit belasten zu müssen.«
    Ich starrte ihn sprachlos an. Er trat noch mal auf mich zu, hakte wieder ein und zog mich auf dem Weg weiter. »Du denkst, es ging damals um meine Karriere.
    Nein, es war in dem Schlamassel der letzten Kriegsjahre von größter Wichtigkeit, Verantwortungswahrheit und -klarheit zu schaffen, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Es wäre nicht gut weitergegangen mit unserer Forschungsgruppe. Daß Dohmke sich so ins Ab-seits manövriert hat – es tat mir damals leid. Aber so viele, bessere, mußten schon daran glauben. Auch 344
    Mischkey hatte die Wahl und sich selbst um Kopf und Kragen agiert.« Er blieb stehen und packte mich an beiden Schultern. »Versteh mich doch, Gerd. Das Werk brauchte mich so, wie ich in diesen schweren Jahren geworden bin. Ich habe immer Hochachtung gehabt für den alten Schmalz, der, so einfach er war, diese schwierigen Zusammenhänge verstanden hat.«
    »Du
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