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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Pawel Nikolajewitsch Abranow sah hinauf in den Himmel und dann über seine Stiefelspitzen hinweg hinunter zur Wolga und kaute an einem Kanten harten Brotes. Der Himmel war fahl, grau, unergründlich, schwer, und die Wolga schien schwarz zu sein, ein breiter Strom voll Tinte.
    Abranow seufzte und benetzte den harten Kanten Brot mit Speichel, damit er aufweichte und sich beißen ließ. Neben ihm lag ein großer Mann in Uniform mit breiten Schulterstücken, unrasiert, dreckig, mit Lehm beschmiert. Auch er sah über die Wolga hinüber nach Krasnaja Sloboda, aber er seufzte nicht, sondern kaute an einer Zigarette. Es war eine gute, dicke Zigarette aus Machorka, gerollt aus einem Teil des vorgestrigen Lageberichtes der ›Prawda‹.
    »Was ist, Väterchen?« fragte der Uniformierte. »Warum seufzt du?«
    »Es müßte Winter werden, Genosse Major. Zeit ist's dafür! Ein schneller Winter, hui – wie Reiter aus der Steppe von Kasachstan! Über Nacht sollte es zufrieren … dann können sie aus der Tiefe zu uns kommen über die Wolga, unsere Panzerchen …« Abranow lachte leise. Es war ein fast wimmerndes Lachen, denn Pawel Nikolajewitsch war immerhin zweiundsiebzig Jahre alt. Ein richtiger Greis war er, so, wie man sich einen alten Mann vorstellt, mit weißen Haaren, die sich im Nacken bogen, mit einer dicken Nase, mit in Falten eingebetteten Augen, deren Pupillen noch glänzten, auch wenn die Augäpfel schon gelb waren wie tabakgebeizte Fingerkuppen. Und ein kräftiger Kerl war er noch, bei Gott … einmal, in seiner Jugend, war er bei der zaristischen Garde, und später stand er in der Fabrik ›Roter Oktober‹ am Eisenhammer und ließ im Funkenregen die Stahlplatten sich biegen. So ein Kerl war er geblieben mit seinen zweiundsiebzig Jahren, nur wenn er lachte, war es das Kichern eines Greises, ein wenig blöd und nicht jedermanns Sache.
    Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski tat einen tiefen Zug an seiner dicken Zigarette. Er stieß den Qualm gegen den erdgrauen Himmel und kratzte sich über die linke Wange. Hinter ihnen donnerte, krachte und zerbarst es. Häuser verbrannten und stürzten ein, Keller wurden in die Luft geschleudert, Eisenträger bogen sich wie dünne Drähte, und Menschen zerplatzten, als seien sie aus sprödem Glas. Hinter ihnen war die Hölle aufgebrochen, starb eine Stadt unter Feuer und Explosion, gab es keinen Himmel und keine Erde mehr, sondern nur eine Wolke aus Eisen, Flammen, Steinen, Staub, Lehm und zerfetzten Leibern. Ob im Norden, dort, wo die großen Werke lagen – das Traktorenwerk ›Dsershinski‹, die Geschützfabrik ›Rote Barrikade‹, das Hüttenwerk ›Roter Oktober‹ und die Erdölraffinerien –, oder im Süden bei den Hafenanlagen, dem Getreidesilo und den Kais, und erst recht im Westen, am Stadtrand, am Tatarenwall und am Mamai-Kurgan, der Höhe 102, lagen die deutschen Divisionen in den Trümmern und Kellern und berannten die wenigen Stützpunkte, in denen sich die Rote Armee festkrallte. Nur hier, wo der Greis Abranow und der lange Major Kubowski lagen, war es still wie auf einer windstillen Seite. Sie lagen in der Mulde im Steilufer der Wolga. Nur ein drei Kilometer langer Streifen war es, der sicher war vor allen deutschen Granaten. In diese drei Kilometer Erde hatten sie sich eingewühlt wie die Füchse … Sanitätsbunker, Lagerräume, Küchen, Stäbe, Unterkünfte, Funkstellen … die ganze zweiundsechzigste Sowjetarmee, die Stalingrad verteidigte, lebte auf diesen drei Kilometern Steilhang an der Wolga. Sie waren das Herz und das Hirn, die Kraft und die Hoffnung.
    »Es hat alles zwei Seiten, Väterchen Pawel Nikolajewitsch«, sagte Major Kubowski. Er rauchte mit Genuß weiter, denn er hatte zwei Tage Erholungsurlaub. Auch das gab es noch in Stalingrad. In den Kellern und Hausruinen, in dem Gewirr und Labyrinth der zerfetzten Fabrikhallen, in den Laufgräben, die jetzt die Straßen ersetzten, hockte und starb nur ein Teil der Armee. Ein anderer Teil lag in den Fuchsbauten des Steilufers in Ruhe und Bereitschaft; alle paar Tage wurden sie ausgewechselt, damit sie wieder frisch wurden und harten Widerstand leisteten. So kam es, daß immer ausgeruhte Truppen den Deutschen gegenüberlagen.
    »Wenn der Boden gefriert, können auch die Deutschen besser operieren.« Major Kubowski zuckte zusammen. Vor ihm rauschte die Wolga auf, eine hohe Fontäne stieg empor, erst dann kamen die Detonation und ein Regen aufgeschleuderten, nassen Bodens.
    »Unsere Panzer stehen in der
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