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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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mußt wahnsinnig sein. Du hast zwei Menschen ermordet und redest darüber wie … wie …«
    »Ach, sind das große Worte. Habe ich gemordet?
    Oder war’s der Richter oder der Henker? Der alte Schmalz? Und wer hat die Ermittlungen geführt gegen Tyberg und Dohmke? Wer hat für Mischkey die Falle gebaut und zuschnappen lassen? Alle sind wir verstrickt, alle, und wir müssen das sehen und tragen und unsere Pflicht tun.«
    Ich riß mich los von seinem Arm. »Verstrickt? Vielleicht sind wir’s alle, aber du hast die Fäden gezogen, du!« Ich schrie in sein ruhiges Gesicht.
    Auch er blieb stehen. »Das ist doch ein Kinderglaube
    – der war’s, der war’s. Und nicht einmal als wir Kinder waren, haben wir es wirklich geglaubt, sondern genau gewußt, daß wir alle beteiligt sind, wenn der Lehrer ge-
    ärgert, ein Kamerad gehänselt oder beim Spiel der Gegner gefoult wird.« Ganz konzentriert sprach er, geduldig, belehrend, und mir war der Kopf benommen und verwirrt. Ja, so hatte mein Schuldgefühl sich auch da-vongestohlen, Jahr um Jahr.
    Korten redete weiter. »Aber bitte – ich war’s. Wenn du das brauchst – ich stehe dazu. Was meinst du, was 345
    passiert wäre, wenn Mischkey an die Öffentlichkeit gegangen wäre, zur Presse? So was ist nicht damit getan, daß man den alten Chef durch einen neuen ersetzt, und alles geht weiter. Ich will dir nicht von der Resonanz erzählen, die seine Geschichte in den usa, England und Frankreich gehabt hätte, von dem Wettbewerb, in dem dort mit allen Mitteln um jeden Zentimeter gekämpft wird, von den Arbeitsplätzen, die zerstört worden wä-
    ren, davon, was Arbeitslosigkeit heute bedeutet. Die rcw sind ein großes, schweres Schiff, das trotz seiner Schwerfälligkeit mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durchs Treibeis fährt und, wenn der Kapitän geht und das Ruder flattert, aufläuft und zerbirst. Darum stehe ich dazu.«
    »Zu Mord?«
    »Hätte ich ihn kaufen sollen? Das Risiko war zu hoch.
    Und erzähl mir nicht, daß für die Rettung von Leben kein Risiko zu hoch sein darf. Es stimmt nicht, denk an die Verkehrstoten, die Unfälle in der Produktion, die po-lizeilichen Todesschüsse. Denk an den Kampf gegen den Terrorismus, bei dem die Polizei aus Versehen wohl so viele erschossen hat wie die Terroristen mit Absicht –
    deswegen kapitulieren?«
    »Und Dohmke?« Mir war plötzlich leer. Ich sah uns dastehen und reden, als liefe ein Film ohne Ton. Unter den grauen Wolken die hohe Küste, die sprühende schmutzige Gischt, der kleine Pfad und dahinter die Felder, zwei ältere Männer in erregtem Gespräch – die Hände gestikulieren, die Münder bewegen sich, aber die Szene ist stumm. Ich wünschte mich weit weg.
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    »Dohmke? Eigentlich muß ich dazu nichts mehr sagen. Daß die Jahre zwischen 1933 bis 1945 vergessen bleiben, ist das Fundament, auf dem unser Staat gebaut ist. Gut, ein bißchen Spektakel mit Prozessen und Urteilen mußten und müssen wir wohl machen. Aber es hat 1945 keine Nacht der langen Messer gegeben, und das wäre die einzige Möglichkeit der Abrechnung gewesen. Dann war das Fundament besiegelt. Du bist nicht zufrieden? Gut denn, Dohmke war unzuverlässig und unberechenbar, vielleicht ein begabter Chemiker, aber in allem anderen ein Dilettant, der an der Front keine zwei Tage überlebt hätte.«
    Wir gingen weiter. Er hatte mich nicht erneut einha-ken müssen; als er loslief, war ich an seiner Seite geblieben. »Das Schicksal mag so reden, Ferdinand, aber nicht du. Dampfer, die ihre Bahnen ziehen, unverrückbare Fundamente, Verstrickungen, in denen wir nur Puppen an Fäden sind – was du mir über die Kräfte und Mächte des Lebens erzählst, ändert nichts daran, daß du, Ferdinand Korten, du allein …«
    »Schicksal?« Jetzt wurde er wütend. »Wir sind unser Schicksal, und ich schiebe nichts auf irgendwelche Kräf-te und Mächte. Du bist’s doch, der die Sachen weder ganz noch gar nicht tut. Dohmke und Mischkey rein-reiten, ja, aber wenn dann passiert, was passieren muß, kommen deine Skrupel, und du willst es nicht gesehen haben und gewesen sein. Herrgott, Gerd, werd endlich erwachsen.«
    Er stapfte weiter. Der Weg war eng geworden, und ich lief hinter ihm, links die Küste, rechts eine Mauer.
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    Dahinter die Felder. »Warum bist du gekommen?« Er drehte sich um. »Um zu sehen, ob ich dich auch um-bringe? Dich runterstoße?« Fünfzig Meter unter uns schäumte das Meer.
    Er lachte, wie über einen Scherz. Dann las er es in meinem Gesicht,
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