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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz
Autoren: Bernhard Schlink , Walter Popp
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Warum fragst du?«
    »Ich überlege mir, ob er in der Rolle des ›Zeit‹-
    Reporters zu Tyberg gefahren ist.«
    »Du meinst, auf der Suche nach Material, das sich gegen die rcw verwenden läßt?« Sie dachte nach. »Zutrauen würde ich’s ihm schon. Aber zu finden war da ja nichts, so wie Tyberg den Besuch beschrieben hat.«
    Fröstelnd zog sie den Morgenmantel enger um sich.
    »Willst du wirklich keinen Kaffee?«
    »Du hörst wieder von mir, Judith.« Ich ging nach Hause.
    Es paßte zusammen. Ein verzweifelter Mischkey hat-334
    te das Hohe Lied von Anstand und Widerstand, das Tyberg gesungen hatte, gegen Korten zu verwenden versucht. Intuitiv hatte er die Dissonanzen besser her-ausgehört als wir alle, die Verbindung zur ss, die Rettung von Tyberg, nicht auch von Dohmke. Er ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit war und wie bedrohlich er für Korten klingen mußte. Nicht nur klingen mußte, sondern mit seinen hartnäckigen Recherchen war.
    Warum war mir das nicht aufgefallen? Wenn Tyberg so leicht zu retten war, warum hatte Korten dann nicht zwei Tage vorher, als Dohmke noch lebte, beide heraus-geholt? Als Rückversicherung genügte einer, und Tyberg, der Leiter der Forschungsgruppe, war interessanter als der Mitarbeiter Dohmke.
    Ich nahm die Galoschen von den Füßen und schlug sie gegeneinander, bis der Schnee ganz abgefallen war.
    Im Treppenhaus roch es nach Sauerbraten. Gestern hatte ich nichts mehr zum Essen eingekauft und konnte mir nur zwei Spiegeleier machen. Das dritte verbleiben-de Ei schlug ich Turbo über sein Futter. Mit dem Sardi-nengeruch in der Wohnung hatte er in den vergangenen Tagen viel leiden müssen.
    Der ss-Mann, der Korten bei der Befreiung von Tyberg geholfen hatte, war Schmalz gewesen. Zusammen mit Schmalz hatte Korten Weinstein unter Druck gesetzt. Für Korten hatte Schmalz Mischkey umgebracht.
    Ich spülte die Sardinendosen klar und heiß nach und trocknete sie ab. Wo sie fehlten, klebte ich die Deckel an. Den grünen Wollfaden, mit dem ich sie aufhängen wollte, führte ich mal durch die Schnecke des aufgeroll-335
    ten Deckels, mal durch den Ring der Aufreißlasche, mal um den Punkt, an dem der aufgeschnittene Deckel an seiner Dose hing. Sobald eine Dose fertig war, suchte ich ihr am Weihnachtsbaum den geeigneten Platz; die großen nach unten, die kleinen nach oben.
    Ich konnte mich nicht betrügen. Mein Weihnachtsbaum war mir scheißegal. Wieso hatte Korten den Mitwisser Weinstein überleben lassen? Er hatte wohl gar keinen Einfluß bei der ss gehabt, lediglich Schmalz, den ss-Offizier im Werk, bestrickt und beherrscht. Er hatte nicht steuern, aber damit rechnen können, daß Weinstein, wieder im kz, umgebracht werden würde. Und nach dem Krieg? Selbst wenn Korten erfahren haben sollte, daß Weinstein das kz überlebt hatte – er konnte davon ausgehen, daß man mit einer Rolle, wie Weinstein sie hatte spielen müssen, lieber nicht an die Öffentlichkeit tritt.
    Jetzt machten auch die letzten Worte Sinn, die Witwe Schmalz vom Totenbett ihres Mannes berichtet hatte.
    Er muß versucht haben, seinen Herrn und Meister vor der Spur zu warnen, die er wegen seines körperlichen Zustands selbst nicht mehr hatte beseitigen können.
    Wie hatte Korten diesen Mann von sich abhängig zu machen verstanden! Der junge Akademiker aus gutem Hause, der ss-Offizier aus kleinen Verhältnissen, große Herausforderungen und Aufgaben, zwei Männer im Dienst am Werk, nur jeder an seinem Platz. Ich konnte mir vorstellen, was zwischen beiden gelaufen war. Wer wußte besser als ich, wie überzeugend und gewinnend Korten sein konnte.
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    Der Weihnachtsbaum war fertig. Dreißig Sardinendosen hingen, dreißig weiße Kerzen waren aufgesteckt.
    Eine der vertikal hängenden Sardinendosen war oval und erinnerte mich an den Lichtkranz mancher Mari-endarstellungen. Ich ging in den Keller, fand den Karton mit Klärchens Christbaumschmuck und darin die kleine schlanke Madonna im blauen Mantel. Sie paßte in die Dose.
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    Ich wußte, was ich zu tun hatte
    Auch in der nächsten Nacht konnte ich nicht schlafen.
    Manchmal nickte ich kurz ein und träumte Dohmkes Hinrichtung und Kortens Auftritt im Prozeß, meinen Sprung in den Rhein, von dem ich im Traum nicht mehr auftauchte, Judith im Morgenmantel’ mit den Tränen kämpfend am Türpfosten, den alten, breiten, massigen Schmalz, der im Heidelberger Bismarckgarten vom Denkmalsockel steigt und mir entgegenkommt, das Tennisspiel mit Mischkey, bei dem ein kleiner Junge
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