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Sehnsucht der Unschuldigen

Sehnsucht der Unschuldigen

Titel: Sehnsucht der Unschuldigen
Autoren: Nora Roberts
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ihrer Heimat abgeschnitten. Aber den Großvater hatte Caroline trotzdem nie vergessen. Er war groß und kräftig gewesen, hatte ein rotes Gesicht gehabt und hatte sie einmal früh am Morgen zum Angeln mitgenommen. Erst hatte sie den Köder nicht am Haken aufspießen wollen, doch dann hatte er ihr erklärt, der alte Wurm könne es gar nicht erwarten, einen großen Fisch zu fangen.
    Als sich die Leine dann endlich gespannt hatte, hatte sie vor Aufregung gezittert. Voller Ehrfurcht und Stolz war sie schließlich mit drei Welsen zurückgekehrt.
    Ihre Großmutter, eine große, schlanke Frau mit stahlgrauen Haaren, hatte die Beute in einer schweren schwarzen Pfanne gebraten. Ihre Mutter hatte sich geweigert, auch nur einen Bissen davon zu essen, aber Caroline, damals eine dürre, flachsblonde Sechsjährige mit langen, schmalen Fingern und grünen Augen hatte den Fisch mit wahrem Heißhunger verzehrt.
    Das Haus tauchte nun vor ihr auf. Sie lächelte. Es hatte sich so gut wie gar nicht verändert. Die Farbe blätterte von den Fensterläden ab, und das Gras davor stand knöchelhoch, aber es war immer noch das schmucke einstöckige Gebäude mit der überdachten Veranda und dem Kamin auf der linken Seite.
    Etwas brannte ihr in den Augen. Sie versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln. Trauer war doch wirklich nicht angebracht. Ihre Großeltern hatten beide ein langes, erfülltes Leben geführt.
    Warum sollte sie sich da schuldig fühlen? Als ihr Großvater vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie sich gerade in Madrid aufgehalten. Sie hatte mitten in einer Europatournee gesteckt, und ein Termin hatte den anderen gejagt. Da hatte sie unmöglich zur Beerdigung heimfliegen können.
    Und was hatte sie nicht alles versucht, um ihre Großmutter in die Stadt zu locken? Zwischen zwei Konzerten hätte sie da immer wieder mal heimdüsen und sie besuchen können.
    Aber Edith war mit ihrem Haus verwachsen gewesen, in das sie siebzig Jahre zuvor als Braut gekommen war, in dem ihre Kinder geboren und aufgewachsen waren und in dem sie praktisch ihr ganzes Leben verbracht hatte.
    Von ihrem Tod hatte Caroline erst zwei Wochen nach der Beerdigung erfahren. Wegen totaler Erschöpfung hatte sie zu der Zeit in einem Krankenhaus in Toronto gelegen.
    Schuldgefühle waren also wirklich fehl am Platze…
    Doch während sie noch im Wagen saß und die Klimaanlage ihr sanft einen kühlenden Luftzug ins Gesicht blies, wurde Caroline von ihren Gefühlen überwältigt.
    »Es tut mir leid, daß ich nicht da war«, flüsterte sie in die Stille hinein. »Daß ich nie da war.«
    Seufzend fuhr sie sich mit ihren grazilen Fingern durch das geschmeidige honigblonde Haar. Es half ihr auch nicht weiter, wenn sie im Wagen blieb und vor sich hinbrütete. Höchste Zeit, daß sie ihre Sachen reinschaffte und sich einrichtete. Das Haus gehörte jetzt ihr, und sie beabsichtigte, es auch für sich zu nutzen.
    Kaum hatte sie die Wagentür geöffnet, verschlug es ihr den Atem, so heiß war es. Keuchend nahm sie den Geigenkasten vom Rücksitz. Bis sie das Instrument und die schwere Kiste mit den Notenblättern auf der Veranda absetzte, lief ihr der Schweiß in Strömen herunter.
    Noch dreimal mußte sie zum Wagen zurück und sich mit zwei Koffern, zwei Einkaufstüten von einem Supermarkt, in dem sie sich mit Lebensmitteln eingedeckt hatte, und zum Schluß mit ihrer Tonbandmaschine abmühen, bis endlich alles in einer Reihe vor der Haustür stand und sie den Schlüsselbund aus der Tasche ziehen konnte. Jeder, egal ob der für den Eingang, den Keller, die Hintertür oder die Garage, war mit einem Schildchen versehen. Triangeln gleich klimperten sie gegeneinander, als sie nach dem richtigen suchte.
    Mit einem lauten Knarzen, wie es sich für ein altes Haus gehörte, öffnete sich die Tür. Ein dunkler, verstaubter Flur wurde sichtbar.
    Ein Gefühl von Einsamkeit überschwemmte Caroline. Sie nahm die Geige auf, das wichtigste Stück von allen, und trat ein.
    Der Flur endete hinten bei der Küche. Zur Linken führte eine steile Treppe in den ersten Stock. Auf dem Geländer aus echter Eiche lag eine dicke Staubschicht. Direkt unter der Treppe stand neben einer leeren Vase ein schweres schwarzes Telefon. Dort stellte Caroline ihr Instrument ab und machte sich an die Arbeit.
    Als erstes schaffte sie die Einkaufstüten in die Küche, die mit ihren gelben Wänden und den weißen Glasvitrinen noch genauso aussah wie damals in ihrer Kindheit. Weil im Haus eine Hitze wie in einem Backofen
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