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Seeraeuber vor Sylt

Titel: Seeraeuber vor Sylt
Autoren: Cornelia Franz
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ihren Vater an die See verloren. So ging es einigen Kindern im Dorf, denn das Leben der Fischer war gefährlich. Jaike vermisste den wortkargen Mann nicht besonders, er war ohnehin nur selten zu Hause gewesen. Aber dass ihre Mutter seitdem kaum noch mit ihr sprach, das traf sie hart. Das Gespräch am Morgen über Broder und dass er ausziehen sollte, war eine große Ausnahme gewesen.
    Aber jetzt war keine Zeit zu grübeln. Sie waren am Strand angekommen, wo sich schon zwei der Rantumer Fischer an einem Ruderboot zu schaffen machten.
    Die Männer wunderten sich nicht groß, dass Broder mit Jaike aufgetaucht war. Jeder im Dorf wusste, dass die beiden unzertrennlich waren. Ohne viele Worte reichten sie Jaike eine der Laternen, die als Irrlichter ausgesetzt werden sollten. Dann halfen sie Broder, das Boot ins Wasser zu schieben.
    »Erst mal südwärts«, sagte der eine. »Wir drehendann ab zur Seehundsbank. Und ihr fahrt weiter westlich zur Grotenbank. Klar?«
    »Klar«, antwortete Broder und sprang ins Boot. Er wusste genau, wo die Laternen gesetzt werden sollten. Die beiden großen Sandbänke eigneten sich bestens, um von ahnungslosen Seeleuten für eine Hafeneinfahrt gehalten zu werden. Jedenfalls, wenn man sie mit Laternen bestückte. Sie mussten nur abwarten, dass die Flut zurückging und die Sandbänke freigab. Zwischen den Bänken ragten muschelbesetzte Felsen vom Grund hoch. Aber die konnte man erst sehen, wenn es zum Abdrehen zu spät war. Die Schiffe wurden aufgeschlitzt wie die Bäuche der Heringe, die Jaike und Broder zum Abendessen ausgenommen hatten.
    Ein bisschen mulmig war Broder schon zumute. Heute Nacht würde er zum ersten Mal ein Irrlicht setzen. Wenn nun Männer ertranken durch seine falsche Laterne … Würden ihn dann nicht die Seelen der Verstorbenen piesacken, Nacht für Nacht?
    Seufzend sah Broder zu Jaike hinüber, die neben ihm auf der Ruderbank saß und das Ruder fest in beiden Händen hielt. Auch ihr Gesicht war finster. Vielleicht begriff auch sie erst in diesem Moment, zu was für einer Tat sie da unterwegs waren.

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    In großer Not
    Kaum eine Stunde später bereuten Jaike und Broder bitter, dass sie sich auf diese Teufelssache eingelassen hatten. Es lag kein Segen über ihrer Fahrt.
    An der See kann das Wetter so schnell umschlagen, dass auch erfahrene Männer überrascht werden. Und Broder und Jaike waren nur zwei Kinder, zwar stark und mutig, aber trotzdem hilflos, als plötzlich der Sturm wieder aufbrauste. So heftig und wild, dass er das Boot wie einen Korken auf dem Wasser tanzen ließ.
    »Jaike, sieh nur, die schwarzen Wolken!«, hatte Broder noch gerufen. »Wir müssen umkehren!« Aber da war es schon zu spät gewesen.
    Eine einzige Böe hatte gereicht, um Jaike das Ruder aus der Hand zu schlagen. Mit beiden Händen musste sie sich am Bootsrand festklammern, um nicht ebenfalls ins Meer zu stürzen.
    Auch Broder hatte sein Ruder inzwischen verloren. Er kniete auf dem Boden des Bootes, hielt sich an der Ruderbank fest und kniff die Augen zusammen.Er wollte die Brecher nicht sehen, die auf Pidders elendes Bötchen niedergingen.
    Jaike wurde von einer Welle zu Boden geworfen und lag jetzt neben Broder. Sie presste sich dicht an ihn. Trotzdem musste der Junge schreien, damit sie ihn im Tosen und Wüten des Sturms verstehen konnte.
    »Halt dich fest, Jaike! Nicht loslassen!«
    Nicht loslassen! Das war das Einzige, was die beiden Kinder in den nächsten Stunden denken konnten. Stunden, die ihnen wie die Ewigkeit vorkamen. Nicht loslassen, auch wenn die Hände vor Kälte und Anstrengung blau und ohne Gefühl waren. Auch wenn das Boot voller Wasser stand und das salzige Nass bei jedem Atemholen in Mund und Nase drang. Auch wenn jeder Muskel im Körper schmerzte und jeder Knochen zerschlagen zu sein schien. Nicht loslassen! Das war ihre einzige Chance, zu überleben.
    Fast bewusstlos waren sie vor Erschöpfung, aber Angst verspürten sie nicht. Vielleicht hatten sie keine Zeit und keine Kraft dafür. Nur Bilder tauchten in ihren Köpfen auf. Bilder, wie sie jeder an der Küste kannte, egal ob Fischer oder Bauer, ob Mann, Frau oder Kind. Sie wurden gespeist von all den Erzählungen über Stürme und Sturmfluten … überInseln und Halligen, die das Meer verschluckt hatte … über all die Ertrunkenen und Vermissten, die fast in jeder Familie beklagt wurden.
    Und die mächtigste aller Erzählungen, die sich die Menschen bei Sturm und Unwetter zuflüsterten, das war die von der großen
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