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Seeraeuber vor Sylt

Titel: Seeraeuber vor Sylt
Autoren: Cornelia Franz
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Mandränke. Wie oft schon hatte der alte Pidder den Kindern von der gewaltigen Sturmflut erzählt, die vor fünfzig Jahren die Küste heimgesucht hatte.
    »Ich bin noch ein junger Spund gewesen«, sagte er dann. »Aber an dem Tag sind meine Haare mit einem Schlag weiß geworden vor Schreck.«
    Pidder behauptete, die Torfstecher seien schuld gewesen. Sie hätten den Boden so weit abgetragen, dass er tiefer als der Meeresspiegel lag. So konnte das Wasser hineinlaufen wie in eine Schüssel. Der Pfarrer dagegen sprach nur von der zweiten Sintflut, die deshalb über die Friesen gekommen war, weil die Fischer selbst am heiligen Sonntag arbeiteten.
    All diese Geschichten vermischten sich jetzt für Broder und Jaike mit den Erinnerungen an ihre Väter, die irgendwo auf dem Grund der Westsee lagen. Unendlich schien der Hunger der See zu sein, die Menschen verschlingen zu wollen.
    »Hörst du das Rufen?«, flüsterte Jaike und pressteihr Gesicht an Broders Schulter. »Das ist Ekke Nekkepenn. Er sucht uns …«
    Broder antwortete nicht. Wie gerne hätte er Jaike getröstet. Hätte ihr gesagt, dass Ekke Nekkepenn nur eine Erfindung der alten Weiber ist, die sich an langen Winterabenden die Zeit vertrieben. Die Geschichte vom Meeresgott, der unter Wasser in einem Kristallpalast lebte, die glaubte er nicht. Egal wie oft sie erzählt wurde.
    Aber auch er hörte ja die Rufe, die über das Wasser schallten. Kamen sie nicht vielleicht doch vom Grunde des Meeres? Broder hob den Kopf, um das Wasser aus den Haaren und den Ohren zu schütteln.
    Und auf einmal sah er es: ein Schiff – groß wie eine Kirche ragte es auf. Ein Dreimaster mit vom Sturm zerfetzten Segeln. Für einen Moment brach die Sonne durch die Wolken und ließ das graue Segeltuch hell aufleuchten. An der Reling stand ein Seemann und rief ihnen etwas zu.
    Broder stemmte sich mühsam hoch. »Jaike, schau doch, da …«, stammelte er. Vor Aufregung und Erschöpfung brach ihm die Stimme.
    Jaike neben ihm fand schneller die Fassung. Sie riss die Arme empor und schrie aus voller Kehle: »Hier! Hier sind wir! Zu Hilfe!!!«
    Und dann liefen ihr die Tränen über die Wangen. Es waren Freudentränen, die sich mit dem Regen und dem Salzwasser auf ihrem Gesicht vermischten.
    Broder konnte später nicht mehr erzählen, wie es ihnen gelungen war, an Bord des fremden Schiffes zu kommen. Der Sturm hatte ihr Bötchen hin und her geworfen und beinahe gegen die hoch aufragende Bordwand des mächtigen Potts geschmettert. Immer wieder hatten die Kinder die Leine verpasst, die man ihnen zuwarf. Aber angesichts der nahen Rettung waren ihnen neue Kräfte gewachsen.
    Und irgendwann hatten sie es geschafft. Sie lagen an Deck. Jemand hatte ihnen Felle über die völlig ausgekühlten Körper gelegt. Ohne zu wissen, wer sie aus der wilden See gerettet hatte, schliefen sie Seite an Seite ein.

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    An Bord der Rosenboom
    Als Broder aufwachte, war das Meer glatt wie ein Spiegel. Ein strahlend blauer Herbsthimmel spannte sich von Horizont zu Horizont. Die Sonne ließ die Nässe auf den Decksplanken dampfen. Eine Weile lag er regungslos auf dem Rücken und blinzelte in den viel zu hellen Tag.
    Jaike schlief schon eine ganze Weile nicht mehr. Sie hatte den Schritten an Deck gelauscht, den Stimmen der Männer und dem Gepolter des Steuermanns, der vom Heck her den Matrosen Befehle zurief.
    Jetzt spürte sie, wie sich Broder neben ihr regte. Sie schob die warme Felldecke zur Seite und wandte sich zu ihm. Doch noch ehe sie etwas sagen konnte, fiel ein Schatten auf sie. Sie richtete sich auf und sah einen Seemann vor sich. Einen alten, bärtigen Kerl, der seinen rechten Arm in einer Schlinge trug.
    »Endlich ausgeschlafen, ihr zwei Schiffsratten?«, fragte er. Er sprach einen friesischen Dialekt, den Jaike nur schwer verstand. Aber obwohl seine Worte unfreundlich klangen, schien ihr, dass er es gut mitihnen meinte. Er hob einen Tonkrug vom Boden und reichte ihn ihr. »Trink.«
    Das brauchte er Jaike nicht zweimal zu sagen. Sie setzte den Krug an die vom Meersalz wunden Lippen und trank das Wasser in großen Schlucken. Dann trank auch Broder und sah sich dabei neugierig auf dem dickbauchigen Schiff um. Ein schöner neuer Holk war das, bestimmt dreißig Meter lang. Ein Handelsschiff, das sicher einem reichen Reeder aus Hamburg oder Emden gehörte. Wieso hatte es sich so dicht an Sylt herangewagt? Für so einen großen Dreimaster, der mit dem Kiel tief unter Wasser ragte, war es in den flachen Gewässern
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