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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor
Autoren: Die Tagebücher
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    21. Februar Dienstag Nachm .
    Die zwei Bände Schurz (bis 1869) las ich wochenlang mit größtem Interesse vor, machte auch eine ganz kurze Notiz dazu. Den dritten Band, Essay über sein politisches Leben 1870–1907 (finis) u. Briefe bis 69 durchblätterte ich. Der Mann ist ein wirklicher Schriftsteller, in allem anschaulich, Privates u. Öffentliches aufs beste mischend. – Danach (ein Krampf von zwei Tagen) den spannendsten Roman aus der Münchener Illustrierten von Klettermaxe- * Possendorf: 9 Gerbergasse 7. Hier ist der übliche Kriminalroman (Wer mordet den Bösewicht?[] Viele [ sind ] sind dazu entschlossen, u. keiner tut es, sondern ein combiniertes Schicksal wird Ausführerin) – die Kriminalsache ist mit Spiritismus dicht vermengt, u. der * Autor steht auf Seiten der Anhänger des Wunderbaren u. Jenseitigen, u. macht die Bösewichter zu flachen Rationalisten. – Jetzt haben wir wieder gewichtigere Lectüre begonnen, den Abituriententag 1 von * Werfel. Leider schildert er gleich Anfangs Symptome der Herzsklerose (Schmerzen im linken Arm usw.), die mir allzu gut bekannt sind. Das hat mich schwer erschüttert.
    Immer mehr ziehe ich mich auf das Vorlesen zurück. Eigene Arbeit stockt fast ganz. Eine Recension für das germ.-rom Litbl. * Langer: * Friedr. d. Große u. die geistige Welt Frankreichs 2 ist alles. Von dem Frankreichbild habe ich wieder mal Abstand genommen. Vielleicht in den Ferien. Mich quält einerseits der Zeitmangel: Heizen, Abwaschen, Einkaufen, Mädchen für alles, andrerseits die Idee der Wertlosigkeit. Wie gleichgültig, ob ich ein Buch mehr oder weniger hinterlasse! Vanitas ...
    Collegien gehen zu Ende. Heute mein Dienstagschluß, denn nächste Woche ist Fastnacht. Ich lese das Italiencolleg längst vor 4, 5 Leuten. Montag Abschluß des Frankreichcollegs. – Im nächsten Semester wird die Leere des Hörsaals noch gähnender sein. Man würgt immer mehr ab.
    Seit etwa 3 Wochen die Depression des reactionären Regiments. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker als ich mir zugetraut hätte sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken. Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimer wird. Und alles ist still u. duckt sich, am tiefsten die Judenheit u. ihre demokratische Presse. – Eine Woche nach * Hitlers Ernennung 3 waren wir (am 5. II) bei * * Blumenfelds 4 mit * Raab 5 zusamen. R., Gschaftlhuber, Nationalökonom, Vorsitzender des Humboldtclubs, hielt eine große Rede u. erklärte, man müsse die Deutschnationalen wählen, um den rechten Flügel der Koalition zu stärken. Ich trat ihm erbittert entgegen. Interessanter seine Meinung, daß * Hitler in religiösem Irrsinn enden werde .. Am meisten berührt, wie man den Ereignissen so ganz blind gegenübersteht, wie niemand eine Ahnung von der wahren Machtverteilung hat. Wer wird am 5/III die Majorität haben? 6 Wird der Terror hingenomen werden, u. wie lange? Niemand kann prophezeien. –
    Inzwischen wirkt die Unsicherheit der Lage auf alles Einzelne. Jeder Versuch Geld zum Bau zu leihen, scheitert. Das lastet schwer auf uns.
    Am 14/II waren * * Thieles hier , 1 u wir aßen als ihre Gäste im Ratskeller. Melanie erzählte, ihr Mann dürfe nicht wissen, daß * Wolfgang, der Chemiestudent, ein guter Junge, in Frankfurt Hitleruniform trage. Er, Th., sprach sich gegen * Hitler, aber für das Verbot der Kommun. Partei aus.
    Sehr kühl stehen wir zu * Gusti Wieghardt. 2 Schuld daran ist diesmal nicht ihr Kommunismus, sondern ihre Gereiztheit gegen * Eva. Sie ist, Wachs wie immer, offenbar von Grete aufgeputscht worden. Sehr vergiftend hat * Grete hier gewirkt.
    Einen hübschen Abend verlebten wir am 14/II bei * * Köhlers, 3 den anständigen. Er wollte nachträglich feiern, daß er Studienassessor geworden u. wollte mir seine Dankbarkeit erweisen. Wir wurden sehr stark unter ausgezeichneten Fruchtsekt gesetzt.
    Vor 14 Tagen traf ich am Bismarckplatz * Wengler 4 u. es fiel mir auf, daß sein Mund verzerrt war u. hing. Gleich darauf erhielt ich Nachricht von seiner Erkrankung. Ein kleiner Schlaganfall. Der Mann ist Mitte 40. Im gleichen Alter starb sein * Vater. Ererbte Sklerose oder Folge einer Syphilis. Ich besuchte ihn am letzten Sonnabend. Er war beweglich, sprach, machte guten Eindruck. (Im Liegen). Aber er ist doch gezeichnet. Tod rings um mich. Die junge * Frau Kühn 5 hat einen schweren Herzanfall gehabt, der 60jährige * Breit 6 eine[ n] schwere Herzschwäche. Der Todesgedanke läßt mich keine
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