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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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lautete: Anthropologia oder ein Traktatum über den Menschen in zwei Teilen: zum Ersten anatomischer Natur, zum Zweiten psychologischer Natur . Wie bei den meisten Schriften, die ich hier durcharbeitete, konnte man vom Titel kaum auf den Inhalt schließen.
    Meine Finger würden mir möglicherweise mehr über das Buch verraten können, ohne dass ich es aufzuschlagen brauchte. Tante Sarah hatte die Post immer erst mit den Fingern geprüft, bevor sie einen Umschlag geöffnet hatte, nur für den Fall, dass er eine Rechnung enthielt, die sie nicht bezahlen wollte. Auf diese Weise konnte sie sich guten Gewissens ahnungslos stellen, wenn sich herausstellte, dass sie der Stromgesellschaft Geld schuldete.
    Die vergoldeten Ziffern auf dem Buchrücken zwinkerten mir zu. Ich setzte mich und erwog die verschiedenen Alternativen.
    Die Magie ignorieren, das Buch aufschlagen und es wie ein menschlicher Gelehrter zu lesen versuchen?
    Das verhexte Manuskript ignorieren und ungeöffnet zurückgeben?
    Sarah hätte sich halbtot gelacht, hätte sie von meiner Zwangslage gewusst. Sie hatte immer behauptet, dass ich ohnehin keine Chance hätte, meine magischen Fähigkeiten zu ignorieren. Trotzdem hatte ich genau das seit der Beisetzung meiner Eltern versucht. Damals hatten mich die Hexen unter den Trauergästen genauestens in Augenschein genommen, ob irgendwas darauf hindeutete, dass das Blut der Bishops und Proctors in meinen Adern floss, um mir schließlich aufmunternd auf den Rücken zu klopfen und zu prophezeien, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis ich den Platz meiner Mutter im örtlichen Konvent einnehmen würde. Einige hatten flüsternd Zweifel geäußert, ob es wirklich klug von meinen Eltern gewesen war zu heiraten.
    »Zu große Macht«, murmelten sie, als sie glaubten, dass ich sie nicht hörte. »Damit mussten sie ja Aufmerksamkeit erregen  – auch ohne dass sie alte religiöse Zeremonien studierten.«
    Damit hatte für mich festgestanden, dass die übernatürlichen Kräfte meiner Eltern zu ihrem Tod geführt hatten und ich darum einen anderen Lebensweg einschlagen würde. Ich kehrte allem, was mit Magie zu tun hatte, den Rücken zu, beschäftigte mich mit Dingen, die typisch für eine menschliche Pubertät sind  – Pferde und Jungs und Liebesromane  –, und versuchte zwischen den gewöhnlichen Bewohnern unseres Ortes unterzutauchen. Während der Pubertät neigte ich zu Depressionen und Angstzuständen. Das sei ganz normal, versicherte der nette menschliche Arzt meiner Tante Sarah, dem sie natürlich weder von den Stimmen erzählt hatte, die ich hörte, noch von meiner Angewohnheit, zum Telefon zu gehen, bevor es läutete, und auch nicht, dass sie bei Vollmond alle Türen und Fenster mit einem magischen Bann verschließen musste, damit ich nicht durch den Wald schlafwandelte. Auch dass sich, wenn ich wütend wurde, die Stühle in unserem Haus selbständig zu einer halsbrecherischen Pyramide auftürmten, die laut krachend umstürzte, sobald sich meine Laune besserte, hatte sie ihm nicht gesagt.
    Als ich dreizehn wurde, beschloss meine Tante, dass es Zeit für mich war, meine Energie wenigstens notdürftig zu kanalisieren und die Grundlagen der Hexerei zu erlernen. Unter ein paar geflüsterten
Worten eine Kerze zu entzünden oder mit einem jahrhundertealten Mittel Pickel verschwinden zu lassen  – das waren gewöhnlich die ersten Schritte einer jungen Hexe. Aber ich war unfähig, auch nur die einfachsten Sprüche anzuwenden, jeder einzelne Trank, den meine Tante mich anrühren ließ, brannte an, und ich weigerte mich störrisch, mich irgendwelchen Tests zu unterziehen, mittels derer sie feststellen wollte, ob ich das Zweite Gesicht meiner Mutter geerbt hatte.
    Die Stimmen, die Brände und alle anderen Ausbrüche wurden seltener, als meine Hormone allmählich zur Ruhe kamen, trotzdem weigerte ich mich weiterhin, das Familiengeschäft zu erlernen. Es machte meine Tante nervös, eine untrainierte Hexe im Haus zu haben, und so war Sarah insgeheim erleichtert, als sie mich schließlich auf ein College in Maine schicken konnte.
    Dass ich nicht in Madison blieb, hatte ich vor allem meinem Intellekt zu verdanken. Ich war schon immer frühreif gewesen und hatte schneller als andere Kinder reden und lesen gelernt. Dazu gesellte sich ein fantastisches, fast fotografisches Gedächtnis  – wodurch es mir ein Leichtes war, den Inhalt unserer Lehrbücher abzurufen und bei allen Tests die gewünschten Informationen
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