Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
Vom Netzwerk:
dabei leicht verwirrt gemustert.
    An jenem Abend erklärten mir meine Eltern, dass wir darauf achten müssten, wie wir über Magie redeten und mit wem. Die Menschen waren uns zahlenmäßig weit überlegen und ängstigten sich vor unserer Macht, erklärte mir meine Mutter, und Angst war die stärkste Kraft auf Erden. Ich hatte ihr damals nicht gestanden, dass auch mir die Magie Angst machte  – vor allem die meiner Mutter.
    Tagsüber sah meine Mutter aus wie fast alle jungen Mütter in Cambridge: leicht unfrisiert, leicht unorganisiert und ständig gehetzt, um der Doppelbelastung von Heim und Büro gerecht zu werden. Ihre blonden Haare wirkten modisch zerzaust, auch wenn die Sachen, die sie trug, allesamt aus dem Jahr 1977 zu stammen schienen  – lange, glockige Röcke, übergroße Hosen und Hemden, dazu Männerwesten und Blazer, die sie wie eine zweite Annie Hall in Secondhandläden überall in Boston zusammensammelte. Nichts, was einen hätte stutzig werden lassen, wenn man ihr auf der Straße begegnet wäre oder hinter ihr im Supermarkt angestanden hätte.

    Doch zu Hause, wenn die Türen verschlossen und die Vorhänge zugezogen waren, verwandelte sich meine Mutter. Dann wirkten ihre Bewegungen nicht mehr hastig und hektisch, sondern selbstbewusst und sicher. Manchmal schien sie geradezu zu schweben. Wenn sie singend durchs Haus spazierte und dabei Stofftiere und Bücher aufsammelte, verwandelte sich ihr Gesicht allmählich, bis es schließlich wunderschön wurde und wie nicht von dieser Welt aussah. Wenn die Magie aus meiner Mutter leuchtete, konnte man den Blick nicht von ihr losreißen.
    »Mommy hat mal eine Feuerwerksrakete verschluckt«, meinte mein Vater mit seinem breiten, gutmütigen Lächeln dazu. Aber Feuerwerksraketen waren, wie ich erfahren sollte, nicht nur strahlend bunt und schön. Sie waren auch unberechenbar und konnten dich erschrecken und in Angst versetzen.
    Eines Abends hielt mein Vater eine Vorlesung, als meine Mutter beschloss, das Silber zu putzen, und dabei in den Bann einer Wasserschüssel gezogen wurde, die sie auf den Tisch im Esszimmer gestellt hatte. Sie starrte auf die spiegelglatte Oberfläche, bis sich das Wasser mit einem leichten Nebel überzog, der sich wiederum zu winzigen Geisterschemen formte. Ich hielt begeistert den Atem an, während die Gestalten immer größer wurden. Bald kletterten die fantastischen Figuren an den Vorhängen hoch und baumelten von der Decke. Ängstlich rief ich nach meiner Mutter, aber die war vollkommen in den Anblick des Wassers versunken. Ihre Konzentration blieb ungebrochen, bis ein Wesen, halb Mensch, halb Tier, auf mich zugekrochen kam und mich in den Arm kniff. Das schreckte sie aus ihrer Trance, und sie explodierte in einen Schauer von zornig rotem Licht, der die Schattenwesen zurücktrieb und das Haus mit dem Gestank von verbrannten Federn erfüllte. Mein Vater, über den Geruch sichtbar erschrocken, fand uns zusammengekuschelt im Ehebett. Als meine Mutter ihn sah, brach sie in Tränen der Reue aus. Danach fühlte ich mich in unserem Esszimmer nie wieder wirklich wohl.
    Was mir an Geborgenheit geblieben war, verpuffte schließlich kurz nach meinem siebenten Geburtstag, als meine Mutter und mein Vater nach Afrika reisten und nicht mehr zurückkehrten.

     
    Ich rief mich zur Ordnung und konzentrierte mich wieder auf das Dilemma, vor dem ich stand. Das Manuskript lag in dem hellen Lichtkreis unter der Leselampe. Seine Magie zerrte an einem dunklen Knoten in meinem Inneren. Wieder landeten meine Finger auf dem glatten Leder. Diesmal kam mir das Kribbeln vertraut vor. Ich entsann mich vage, dass ich schon einmal etwas Ähnliches empfunden hatte, als ich im Arbeitszimmer meines Vaters in ein paar Papieren geblättert hatte.
    Energisch wandte ich mich von der ledergebundenen Handschrift ab und beschäftigte mich mit etwas ganz Rationalem: der Suche nach der Liste von alchemistischen Texten, die ich erstellt hatte, bevor ich aus New Haven abgereist war. Sie lag irgendwo auf dem Lesetisch, tief vergraben unter all den unsortierten Papieren, Ausleihzetteln, Quittungen, Stiften, Bleistiften und Bibliotheksplänen, und war akribisch geordnet nach den verschiedenen Sammlungen und dann nach der Bibliotheksnummer, die jedem Text zugeordnet worden war, sobald man ihn in die Bodleian Library aufgenommen hatte. Seit ich vor ein paar Wochen eingetroffen war, hatte ich methodisch meine Liste abgearbeitet. Die kopierte Katalogbeschreibung für Ashmole 782
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher