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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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sollte, spiegelten meine eigenen Bemühungen wider, mich von allem Okkulten abzuwenden. Immer höher wuchs die Mauer, die ich zwischen dem, was sich in meinem Verstand abspielte, und dem, was ich in meinem Blut trug, errichtet hatte.
    Meine Tante Sarah hatte nur geschnaubt, als ich ihr von meinem Entschluss erzählt hatte, mich auf die Chemie des siebzehnten Jahrhunderts zu spezialisieren. Ihr leuchtend rotes Haar verriet schon von weitem ihr leicht entflammbares Temperament und ihre scharfe Zunge. Sie war mit Leib und Seele Hexe, nahm grundsätzlich kein Blatt vor den Mund und dominierte jeden Raum, sobald sie ihn betreten hatte. Als Stützpfeiler der Ortsgemeinschaft von Madison wurde Sarah oft hinzugezogen, wenn es lokale Krisen, groß oder klein, zu bewältigen galt. Seit ich nicht mehr Tag für Tag ihren messerscharfen
Bemerkungen über die menschliche Wankelmütigkeit und Inkonsequenz ausgesetzt war, verstanden wir uns viel besser.
    Obwohl wir mehrere hundert Meilen voneinander getrennt waren, standen wir in engem Kontakt. Sarah machte kein Hehl daraus, dass sie auch meine jüngsten Versuche, mich der Magie zu entziehen, lachhaft fand: »Wir haben das früher Alchemie genannt«, sagte sie. »Und das ist im Grunde auch nur eine Form von Magie.«
    »Ist es nicht«, protestierte ich hitzig. Mit meiner Arbeit wollte ich im Gegenteil beweisen, wie wissenschaftlich fundiert die damaligen Anstrengungen im Grunde gewesen waren. »Mir geht es um die zunehmende Bedeutung des wissenschaftlichen Experiments, anstelle der Suche nach einem magischen Elixier, mit dem man Blei in Gold verwandeln und Menschen unsterblich machen kann.«
    »Wenn du meinst«, sagte Sarah zweifelnd. »Trotzdem ist das für jemanden, der als Mensch durchgehen möchte, ein eher befremdliches Fachgebiet.«
    Nachdem man mir meinen Doktortitel verliehen hatte, kämpfte ich mit eisernem Willen um einen Job an der historischen Fakultät in Yale, dem einzigen Fleck auf Erden, der noch englischer ist als England. Meine Kollegen warnten mich, dass ich kaum Chancen auf eine Festanstellung hätte. Aber ich spuckte zwei Bücher aus, bekam eine Handvoll Preise verliehen und sackte mehrere Forschungsstipendien ein. Danach bekam ich meine Festanstellung und hatte alle Zweifler widerlegt.
    Vor allem aber gehörte mein Leben endlich mir allein. Niemand in meiner Abteilung, nicht einmal jene Historiker, die sich mit der amerikanischen Frühzeit beschäftigten, brachten meinen Nachnamen mit jener Frau in Verbindung, die 1692 in Salem als Hexe verbrannt worden war. Um meine schwer erarbeitete Autonomie nicht zu gefährden, verbannte ich weiterhin alles aus meinem Leben, was nur entfernt nach Magie oder Zauberei roch. Natürlich wurde ich hin und wieder rückfällig, so wie damals, als ich auf einen von Sarahs Zaubersprüchen zurückgreifen musste, weil meine Waschmaschine mein kleines Apartment am Wooster Square zu überschwemmen drohte. Niemand ist vollkommen.

    Ich vermerkte im Geist den Fehltritt, den ich mir eben geleistet hatte, holte tief Luft, ergriff das Manuskript mit beiden Händen und legte es in eine der keilförmigen Buchstützen, die die Bibliothek zur Verfügung stellt, um ihre seltenen Bücher bei der Lektüre zu schützen. Ich hatte mich entschieden: Ich würde mich wie eine ernsthafte Wissenschaftlerin verhalten und Ashmole 782 wie jede gewöhnliche Handschrift behandeln. Ich würde meine brennenden Fingerspitzen und den eigentümlichen Geruch des Buches ignorieren und ganz sachlich den Inhalt zusammenfassen. Danach würde ich  – mit professioneller Distanz  – entscheiden, ob sich ein längeres Studium lohnen könnte. Nichtsdestotrotz zitterten meine Finger, als ich die kleinen Messingklammern löste.
    Das Manuskript stieß einen leisen Seufzer aus.
    Ich vergewisserte mich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass ich allein im Raum war. Das einzige Geräusch war das laute Ticken der Uhr im Lesesaal.
    Ich beschloss, auf den Vermerk »Buch seufzt« zu verzichten, beugte mich über meinen Laptop und öffnete eine neue Datei. Diese vertraute Übung  – die ich schon Hunderte, wenn nicht Tausende Male absolviert hatte  – wirkte ebenso beruhigend wie die immer gleiche Prüfliste. Ich tippte Namen und Nummer des Manuskriptes ein und kopierte den Titel aus der Katalogbeschreibung. Dann untersuchte ich Größe und Bindung und beschrieb beides minutiös.
    Danach blieb nur noch eines zu tun: das Manuskript zu öffnen.
    Obwohl ich die
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