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Seelen der Nacht

Seelen der Nacht

Titel: Seelen der Nacht
Autoren: D Harkness
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Handschrift jedoch stellte meinen Glauben an einen logischen Ansatz der Alchemisten auf die Probe. Jede Illustration wies mindestens einen fundamentalen Fehler auf, und es gab keinen Begleittext, der mir einen Schlüssel geliefert hätte.
    Krampfhaft suchte ich nach etwas, das mit meinem Wissen über die Alchemie übereingestimmt hätte. Da tauchten im schwächer werdenden Licht auf einer Seite leichte, kaum noch erkennbare Spuren einer Handschrift auf. Ich drehte die Leselampe zur Seite, um die Stelle besser auszuleuchten.

    Die Schrift war verschwunden.
    Langsam blätterte ich die Seite um, als wäre sie ein zerbrechliches Laubblatt.
    Über die Seite bewegten sich schimmernd Worte  – Hunderte von Worten  –, die sich aber nur bei einem ganz bestimmten Lichteinfall und Blickwinkel des Betrachters zeigten.
    Ich verschluckte einen überraschten Aufschrei.
    Ashmole 782 war ein Palimpsest  – ein Manuskript innerhalb eines Manuskriptes. Weil Pergament damals Mangelware war, hatten die Schreiber bisweilen die Tinte aus alten Büchern gewaschen und die freien Seiten neu beschrieben. Im Lauf der Zeit konnte der ursprüngliche Text als geisterhafter Schatten wieder auftauchen und mit Hilfe von ultraviolettem Licht sichtbar gemacht und zu neuem Leben erweckt werden.
    Allerdings war kein ultraviolettes Licht stark genug, um diese Spuren lesbar zu machen. Das hier war kein gewöhnliches Palimpsest. Die Schrift war nicht weggewaschen worden  – sie lag unter einem Zauberspruch verborgen. Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen, den Text in einem alchemistischen Buch zu verhexen? Hatten Experten doch so schon Mühe, die verworrenen Texte und die abstruse Bildersprache zu deuten, die damals verwendet wurde.
    Ich riss mich von den fahlen Buchstaben los, die sich viel zu schnell bewegten, als dass ich sie hätte lesen können, und konzentrierte mich stattdessen darauf, den Inhalt des Manuskriptes in einer Synopsis zusammenzufassen. »Inkonsistent«, tippte ich. »Beschriftungen aus dem fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhundert, Illustrationen vornehmlich aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Bildquellen möglicherweise älter? Mischung von Papier und Pergament. Farbige und schwarze Tinten, Letztere von ungewöhnlich guter Qualität. Illustrationen gut ausgeführt, doch sind einige Details inkorrekt oder fehlen. Dargestellt werden die Herstellung des Steines der Weisen, alchemische Geburt/ Schöpfung, Tod, Wiederauferstehung und Transformation. Fehlerhafte Kopie eines früheren Manuskriptes? Ein merkwürdiges Buch voller Anomalien.«

    Meine Finger verharrten über den Tasten.
    Wenn Wissenschaftler auf neue Fakten stoßen, die allem widersprechen, was sie zu wissen glauben, haben sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie ignorieren die neuen Fakten, damit ihre hochgeschätzten Theorien nicht in Frage gestellt werden, oder sie konzentrieren sich mit lasergleicher Intensität darauf und versuchen zum Kern des Mysteriums vorzudringen. Hätte kein Zauber über diesem Buch gelegen, wäre ich versucht gewesen, Letzteres zu probieren. Weil es aber verhext war, neigte ich zu Ersterem.
    Und wenn ein Wissenschaftler zweifelt, versucht er die Entscheidung zu verschieben.
    Ich tippte eine ambivalente Schlusszeile: »Braucht mehr Zeit? Möglicherweise später erneute Vorlage?«
    Ich hielt den Atem an und schloss mit sanftem Zupfen den Buchdeckel. Immer noch vibrierte das Manuskript unter Strömen von Magie, am stärksten rund um die Klammern.
    Erleichtert, dass ich es wieder geschlossen hatte, starrte ich Ashmole 782 an. Es juckte mich in den Fingern, noch einmal die Hand auszustrecken und das braune Leder zu berühren. Aber diesmal widerstand ich, so wie ich zuvor der Versuchung widerstanden hatte, die Beschriftungen und Illustrationen zu berühren, um mehr zu erfahren, als ein menschlicher Historiker legitimerweise wissen konnte.
    Tante Sarah hatte mir immer gepredigt, die Magie sei ein Geschenk. Falls sie tatsächlich ein Geschenk war, dann war es mit Haken und Ösen gespickt, die mich an alle Bishop-Hexen vor mir fesselten. Wer seine ererbte magische Macht einsetzte und die Zaubersprüche und Beschwörungen verwendete, die das sorgsam gehütete Geheimnis der Hexenzunft bildeten, musste irgendwann dafür bezahlen. Indem ich Ashmole 782 geöffnet hatte, hatte ich die Mauer durchbrochen, die ich zwischen meiner wissenschaftlichen Arbeit und meinem magischen Erbe errichtet hatte. Aber nachdem ich mich auf die richtige Seite
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